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So knallbunt sahen sie aus, die Wohnzimmer in den siebziger Jahren, der Zeit, in der Martin Schults Roman "Flokati" spielt

© imago/stock&people

"Flokati" von Martin Schult: Muss regelmäßig gekämmt werden

Als Deutschland 1974 Fußballweltmeister wurde: Martin Schults charmanter und gewitzter Erinnerungsroman „Flokati“.

Sitzt ein 13-jähriger Junge im Keller seines eigenen Wohnhauses im Frankfurter Westend und schreibt an seine Lehrerin Frau Ludwig. Es ist ein Geständnis und eine Schulaufgabe zugleich, eine sogenannte Reizwortgeschichte, in der aus vorgegebenen Stichworten ein Aufsatz entstehen soll: Fußball, Teppich, Buch, Katze, Waschmaschine. Und aus diesen Wörtern setzt sich in Paul die Erinnerung an den soeben vergangenen Sommer zusammen, in dem die etwas wunderliche, aber harmlose Nachbarin Frau Schellack gestorben ist. Ein Tod, für den Paul sich verantwortlich fühlt: „Ich habe ein Verbrechen begangen, Frau Ludwig. Ich bin schuld daran, dass jemand gestorben ist.“ Doch das ist nicht das einzige einschneidende Ereignis jenes Sommers.

Martin Schult, der 1967 geboren wurde und Mitarbeiter des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ist, zieht in seinem Debütroman geschickt sämtliche verfügbaren nostalgischen Register. „Flokati oder mein Sommer mit Schmidt“ spielt im Jahr 1974, während der Fußballweltmeisterschaft, die in der Bundesrepublik Deutschland ausgetragen wurde und mit dem Titel für die deutsche Mannschaft endete. Die Spielgegner des deutschen Teams, zuerst zum Beispiel Australien, Chile und die DDR, bilden zugleich die Kapitelüberschriften für den Roman, an dessen Ende sogar noch einmal die Mannschaftsaufstellungen der jeweiligen Partien angehängt sind. Paul allerdings interessiert sich eher gezwungenermaßen für Fußball und diese Weltmeisterschaft, weil der Vater die gesamte Familien- und Urlaubsplanung rund um das Turnier organisiert hat. Soll heißen: Der Sommerurlaub fällt aus, stattdessen wird Sport geguckt.

Der Held erbt von seinem Vater Arno Schmidts "Zettels Traum"

„Flokati“ ist in erster Linie ein ungemein charmantes Buch, weil Martin Schult so unendlich viel Zeitkolorit verarbeitet hat, was zugegebenermaßen hin und wieder ein wenig aufgesetzt wirkt, wie einem Katalog der siebziger Jahre entnommen. An den entscheidenden Stellen aber ist die Vermischung von Zeitströmung und persönlichem Erleben plausibel und vor allem auch authentisch. Durch Pauls Familie nämlich zieht sich ein Riss. Das Politische ist privat geworden. Denn während der Vater, ein vom Gemüt her eher schlicht gestrickter Frisör (der sich damit rühmt, dereinst einmal die Haare der beiden Frankfurter Fußballnationalspieler und Weltmeister Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein geschnitten zu haben), eintaucht in die Welt der von seinem Vater geerbten Prachtausgabe von Arno Schmidts „Zettels Traum“, verkehrt die Mutter, von Beruf Dozentin an der politisch aufgeheizten Frankfurter Universität, in RAF-Sympathisantenkreisen und begegnet den Marotten des Vaters zunehmend mit Aggressivität und Unverständnis. Für Paul wiederum sind die heimlichen Gespräche der Mutter mit Bekannten und Verwandten weitgehend unverständlich. Von „Hungerstreik“ wird da geflüstert und von „Wittlich“. In der Justizvollzugsanstalt der rheinland-pfälzischen Kleinstadt Wittlich saß der Terrorist Holger Meins ein und starb dort 1974.

Die Moden und Absonderlichkeiten der Epoche sind in die Textur des Romans eingewoben: der Flokati, der regelmäßig gekämmt werden muss und auf dem die sonntäglichen Familienzusammenkünfte abgehalten werden, in denen die Mutter von Basisdemokratie und Mitbestimmung schwadroniert. Die große Schwester, die für den Sänger und Popmusiker David Cassidy schwärmt. Oder eben auch eine so exakt gezeichnete Figur wie Onkel Rolf, der in Wahrheit natürlich gar kein Onkel ist, sondern der Mann einer Kollegin der Mutter. „Jeder“, so schreibt Paul, „begegnet in seiner Kindheit einem Menschen, der stellvertretend die böse Seite der Erwachsenenwelt verkörpert.“ In diesem Fall ist das Rolf, ein Schmierlappen vor dem Herrn; ein sadistischer Sexist und lahmer Witzereißer („Rolf fährt Golf“), der mit der Erfindung des Farbfernsehens eine neues Geschäft eröffnet: „Gern-Seh-Geräte Rolf Neun“, abgekürzt: GSG-9.

Wer war verantwortlich für das Regenspiel Deutschland gegen Polen?

Wahrscheinlich ist die Geschichte sogar wahr. Sollte sie ausgedacht sein, spricht das für das Gespür Martin Schults für den teilweise verquasten Jargon der Epoche und für ihre Widersprüche. Schult imitiert und parodiert zugleich die Soziolekte, lässt einen obskuren Bekannten der Mutter ausschließlich in Kleinschreibung (man hat das direkt im Ohr) über verkommene Kapitalisten schimpfen oder übernimmt passagenweise den Arno Schmidt’schen Duktus.

Dabei darf man nie vergessen: Es ist ja Paul, der das alles aufschreibt, im Keller sitzend, und der sein Leben als eine unglückliche Verkettung von Umständen erzählt. Paul, davon ist folgerichtig auszugehen, ist also nicht nur einer, über den sich die anderen Familienmitglieder im Tonfall der Besorgnis tuschelnd unterhalten; er ist offensichtlich auch ein ziemlich begabter Geschichtenerfinder, Abschweifer, Beobachter und Fabulierer.

Ob es also wirklich der Regentanz des Vaters auf dem Frankfurter „Monte Scherbelino“ war, der dafür gesorgt hat, dass das Waldstadion im Spiel gegen die Polen einer Wasserwüste glich, darf bezweifelt werden. Aber man ist geneigt, diesem gewitzten und witzigen Erzähler zu glauben.

Martin Schult: Flokati oder mein Sommer mit Schmidt .Roman. Ullstein Verlag,Berlin 2016.224 Seiten, 18 €.

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