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Menschenkennerin. Jane Gardam.

© Victoria Salmon

Frühwerk von Jane Gardam: Wenn Literatur zur Überlebenshilfe wird

Mit der Old-Filth-Trilogie begann hierzulande der Hype um Jane Gardam. Mit „Robinsons Tochter“ erscheint nun einer ihrer frühen Romane erstmals auf Deutsch.

Polly Flint lernt früh, was es zum Überleben braucht. Zum Beispiel, wie die Schlösser zur Speisekammer funktionieren. Oder wo sie ihre Pflegemutter findet: unterm Küchentisch, weil diese eine Quartalssäuferin ist.

Schon als kleines Mädchen kann Polly eine bewegte Vergangenheit vorweisen: zig Umzüge und diverse Pflegemütter in verschiedenen Hafenstädten Englands. Ihre Mutter starb vor ihrem ersten Geburtstag, der Vater, ein Kapitän, ist ständig unterwegs. Als Polly sechs ist, bringt ihr Vater sie zu zwei frommen Tanten aufs Land, der warmherzigen Miss Frances und der spröden Miss Mary.

Hier, in diesem abgeschiedenen Winkel im Nordosten Englands, kehrt zumindest äußerlich Ruhe in ihrem Leben ein. In dem „Gelben Haus“ der Tanten wird sie mehr als 80 Jahre verbringen, fast das gesamte 20. Jahrhundert. Die beiden Weltkriege erlebt sie nur am Rande.

„Robinsons Tochter“ gehört zum Frühwerk der mittlerweile 92-jährigen Autorin, 1985 wurde der Roman erstmals in England veröffentlicht. Jane Gardam hat in Deutschland eine große Fangemeinde, auch dank der wunderbaren Übersetzungen von Isabel Bogdan.

Mit ihrer Roman-Trilogie um Old Filth löste sie hierzulande eine regelrechte Gardam-Manie aus, denn die britische Autorin ist eine kluge Menschkennerin, die ihren Figuren liebevoll, ironisch, bisweilen spöttisch ins Herz schaut.

Gestrandet in einem bürgerlichen Haus

Was haben Robinson Crusoe und Polly Flint miteinander zu tun? Eine Menge. Polly, die Ich-Erzählerin, entdeckt den Roman von Daniel Defoe in der Bibliothek des Hauses, in dem einst ihr Großvater, der Erzdiakon, gelebt hat. Robinson, der 28 Jahre seines Lebens auf einer einsamen Insel verbracht hat, wird für das heranwachsende Mädchen zur Lichtgestalt.

[Jane Gardam: Robinsons Tochter Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. Hanser Berlin, Berlin 2020, 320 Seiten, 24 €.]

Denn auch Polly fühlt sich gestrandet, einsam zwischen den ältlichen Tanten in dem großen Haus mit den dunklen Bücherregalen und schweren Teppichen. Oft bläst der Wind so stark über die Marsch und die Dünen, „bis das Haus zu schwanken schien wie ein Schiff“ und Polly sich unwillkürlich irgendwo festhält, um nicht zu fallen.

Umso mehr klammert sie sich an den mutigen und disziplinierten Einsiedler, der es sogar schafft, 25 Jahre lang mit seinem Brandy zu haushalten. Sehr viel später wird Polly Flint den Whisky für sich entdecken – und weniger gut haushalten als ihr Vorbild.

Die Ironie ist unüberhörbar

Pollys Begeisterung für den Schiffbrüchigen ist aber nicht nur eine pubertäre Phase, ihre Bewunderung hält auch später an. Bisweilen wird diese religiös: „Der monumentale, gottgleiche Crusoe. Wie er monumental und deistisch die Kontrolle über seine Gefühle übernimmt."

So lässt Gardam ihre Polly schwadronieren, die Ironie ist unüberhörbar. Pollys Schwärmerei ist aber immer auch Kompensation: Ihr Leben empfindet sie größtenteils farblos, das „Gelbe Haus“ trägt durchaus Züge eines Gefängnisses.

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Literatur als Rettung, Protagonisten, die zu Weggefährten werden: Eine Überlebensstrategie, die für Polly existentiell ist. Erst später, als sie als Lehrerin arbeitet und Spaß mit den Kindern hat, kann sie Robinson ein Stück weit loslassen.

Über weite Strecken handlungsarm

Eines Tages kommt es gar zu einer realen Liebe: Sie verliebt sich in Theo Zeit, Sohn einer deutsch-jüdischen Industriellenfamilie, die in der Nähe lebt. Als Theo im Ersten Weltkrieg eingezogen wird, schreibt sie ihm leidenschaftliche Briefe, während seine kurz und trocken sind. Später heiratet er eine andere Frau.

Trotzdem zeigt Polly Größe: Sie kümmert sich um Theos kleine Töchter, die 1939 mit einem Flüchtlingszug aus Deutschland nach England kommen, und nimmt sie auf.

„Robinsons Tochter“ ist über große Strecken handlungsarm, unzählige Male treffen sich die Protagonisten am Nachmittag zum Tee, ohne dass etwas passiert. Erst im letzten Teil des Romans beschleunigt Jane Gardam das Tempo.

Die langsame Kameraführung der Autorin verlangt Leserinnen und Lesern Geduld ab. Und doch lässt man sich gern auf den Mikrokosmos des „Gelben Hauses“ ein, weil Gardam eine großartige Beobachterin ist. Und auch die Kunst des humorvollen Understatements kultiviert die Britin bereits in diesem Frühwerk.

Polly Flint ist eine starke Frauenfigur

Wer hätte gedacht, dass die fromme Aunt Frances etwas mit dem Priester des Dorfes hat? Oder, in der Sprache von Gardam: Sie waren „viele Jahre lang intensiv miteinander beschäftigt gewesen“.

Gardam hat mit Polly Flint eine starke Frauenfigur geschaffen. Schon als junges Mädchen weigert sich Polly, sich konfirmieren zu lassen, wie es die Tanten von ihr verlangen. Zeit ihres Lebens bleibt sie eine Rebellin, die nicht den Konventionen, sondern dem eigenen Kompass folgt. Mit ihrer wunderbaren Sturheit mag man sie für eine entfernte Verwandte von Olive Kitteridge halten, Heldin mehrerer Romane der Amerikanerin Elizabeth Strout und ebenfalls Lehrerin.

„Als ich fertig war, hatte ich das Gefühl, dass ich keine weiteren Bücher schreiben müsse. Take it or leave it: In ,Robinsons Tochter’ steht alles drin, was ich zu sagen habe", bekannte Jane Gardam einmal. Erfreulicherweise ist es dann doch nicht bei diesem Roman geblieben.

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