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Filmdiva Cristina (Marion Cotillard) spielt in „The Ice Tower“ die tyrannische Schneekönigin.

© 3B-Davis-Sutor Kolonko-Arte-BR

Genrekino auf der Berlinale: Mythen, Märchen und Blut

Das Genrekino hält am vierten Tag Einzug in den Wettbewerb und mischt die Konkurrenz mit formalen Experimenten auf.

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Diamanten sprudeln aus offenen Wunden hervor, metallische Fingernägel hinterlassen blutige Striemen auf der Haut. Im vierten Film des belgischen Regie-Duos Hélène Cattet und Bruno Forzani löst sich die Gewalt in Abstraktion und Formspielereien auf, mit Anleihen bei der Op-Art. Die grafischen Elemente in „Reflection in a Dead Diamond“ ähneln nicht zufällig den kunstvollen Titeldesigns eines Saul Bass oder den Titelsequenzen von Bond-Filmen.

Cattet und Forzani haben eine Hommage an das Agentenkino der 1960er Jahre geschaffen, als die Superhelden des Kalten Krieges noch ein Jet-Set-Dasein an der Riviera führten. Sie beziehen sich mit ihrem Film jedoch eher auf die zweite Garnitur der Männer (und Frauen) mit der Lizenz zum Töten; der Bond-Boom brachte damals in Italien und Spanien ein ganzes Subgenre von billigen Agentenfilm-Rip-offs hervor; außerdem eine einträgliche Groschenroman-Kultur.

Mit „Reflection in a Dead Diamond“ debütiert im diesjährigen Wettbewerb also das schmutzige Genrekino, allerdings in seiner stilisiertesten Form – passend zur Retrospektive „Wild, schräg, blutig“. Schon der Vorgänger „Let the Corpses Tan“ (2017) war eine Collage aus den Niederungen des europäischen Genrekinos. Cattet und Forzani reimaginierten darin den Gangsterfilm im Geiste Tarantinos als blutigen Italo-Western. Zigarillokauende Revolverhelden verstecken sich nach einem erfolgreichen Überfall in einer einsamen Hütte, aber Gier und Misstrauen treiben einen Keil zwischen die Männer.

Vertrauen in die Macht der Bilder

Das war noch ein relativ straighter Action-Thriller, in „Reflection in a Dead Diamond“ blühen dagegen die Metaebenen. Der in die Jahre gekommene John D (die italienische B-Movie-Ikone Fabio Testi) verbringt seinen Lebensabend auf der Terrasse eines Luxushotels an der Côte d’Azur und trauert besseren Zeiten nach. Die manifestieren sich allmählich in einem wilden Pastiche aus Erinnerungen, Fantastereien und Comic-Gewaltausbrüchen, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Delirium aufgehoben sind. Ist die mysteriöse Frau im Zimmer nebenan wirklich seine tödliche Nemesis? Oder fantasiert sich der alte Mann doch nur zum Hauptdarsteller in seinem inneren Agentenfilm?

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„Reflection in a Dead Diamond“ setzt damit einen anderen Ton im Wettbewerb; ziemlich durchgeknallt ist das Ganze, mit Ideen (und Blutfontänen) für zwei Filme – und einem tollen Giallo-Soundtrack (unter anderem Ennio Morricone). Die Grenzen von Realität, Film und Märchen (statt Comicheftchen) verschwimmen auch im neuen Film der französischen Regisseurin Lucile Hadžihalilović („Earwig“), die ein willkommener Neuzugang in der Berlinale-Familie ist. Das Kino von Hadžihalilović vertraut ebenfalls auf die Macht der Bilder.

Die Geschichte von „The Ice Tower“ bleibt im Ungefähren und öffnet sich schließlich ins Märchenhafte. Die junge Jeanne (Clara Pacini) reißt aus dem Waisenhaus aus und findet Unterschlupf auf einem Filmset, das von der Filmdiva und „Schneekönigin“-Darstellerin Cristina (Marion Cotillard) beherrscht – und terrorisiert – wird. Das Mädchen ist fasziniert von der Aura des Stars und schleicht sich als Komparsin ein. Aber die Beziehung der beiden emotional versehrten Frauen nimmt eine Wendung ins Toxische. Und Albtraumhafte. 

Hadžihalilović’ entschleunigte Stimmungsbilder sind stets verankert in konkreten Objekten – wie die Glaszähne in „Earwig“ –, sie werden zum Ausgangspunkt iher labyrinthischen Erzählungen. In „The Ice Tower“ ist es ein Kristall, den Jeanne vom Kleid der Königin stiehlt: Leider findet ihre Geschichte diesmal nicht aus dem Parcours märchenhafter Motive heraus. Wo bei Hélène Cattet und Bruno Forzani die tödlichen Diamanten verführerisch im grellen Licht der Sonne funkeln, wirkt der blutige Kristall der Königin seltsam stumpf. Die Welt bricht sich kaleidoskopartig in seiner Struktur, bleibt aber Fragment.

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