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Guggenheim-Chefkuratorin leitet nächste Documenta: Bloß keine Experimente bei der gebeutelten Großausstellung
Pragmatisch, professionell und null Toleranz bei Antisemitismus: Die Kuratorin der Documenta 16 verspricht „keine Überraschungen“ und setzt auf das Improvisationstalent von Künstlern in der Krise.
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Die Erleichterung war dem Podium auf der Pressekonferenz im K14, einer Eventlocation im Zentrum Kassels, sofort anzusehen. Offensichtlich hatte die Berufungskommission eine gute Wahl für die neue künstlerische Leitung der nächsten Documenta getroffen.
Nur mussten Oberbürgermeister Sven Schoeller und der hessische Staatsminister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, Timon Gremmels, zuvor noch über das holprige vergangene Jahr sprechen und dass nach dem Debakel vom letzten Mal die Documenta 16 wieder strahlen werde.
Erst dann durfte Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann die freudige Mitteilung machen, der alle im Saal entgegenfieberten. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Namen von Naomi Beckwith nannte. Seine Zustimmung hatte die stellvertretende Direktorin und Chefkuratorin des New Yorker Solomon R. Guggenheim Museum offensichtlich auch.
Perfekt choreografiert setzte sich im selben Moment die 48-Jährige im klassisch blauen Jackett mit weißer Bluse auf den freigelassenen Stuhl zwischen dem Oberbürgermeister und den beiden Mitgliedern der insgesamt sechsköpfigen Findungskommission. Der Begründung von Yilmaz Dziewior, Direktor des Kölner Museum Ludwig, und Mami Kataoka, Direktorin des Mori Art Museum in Tokyo, wurde da kaum noch zugehört.
Das erst wenige Monate zuvor eingesetzte Gremium – nachdem die Vorgänger wegen erneuter Auseinandersetzungen um BDS-Sympathiebekundungen geschlossen zurückgetreten waren – sollte bis zum Jahresende eine neue Leitung für die Documenta 16 präsentieren. Ihren Job hatte die Kommission also rechtzeitig geschafft. Die Aufmerksamkeit galt deshalb nur noch Beckwith neben ihnen.
Wie kann man Krisen überleben und weitermachen?
Aus dem Documenta-Konzept von Naomi Beckwith
Professionell, smart blieb auch der weitere Auftritt der hochgelobten Kunsthistorikerin, die am Guggenheim-Museum Sammlungen, Ausstellungen, Publikationen, kuratorische Programme und Archive betreut. Außerdem ist sie für die strategische Ausrichtung innerhalb des internationalen Netzwerks der angegliederten Museen verantwortlich. Vor dem Guggenheim arbeitete die Absolventin des Courtauld Institute of Art am Museum of Contemporary Art in Chicago. Wiederkehrendes Thema ihrer Ausstellungen und Lehrtätigkeit ist die Wirkung Schwarzer Kultur in der zeitgenössischen Kunst.
Mit Naomi Beckwith hat die Kommission eine nach allen Seiten abgesicherte Kuratorin gewählt: kein unberechenbares Team wie zuletzt Ruangrupa, das Kollektiv aus Indonesien, sondern eine einzelne, klare Verantwortungsträgerin, verankert im westlichen Establishment, die mit institutionellen Strukturen umzugehen weiß und als Frau wie Person of Color unausgesprochene Proporz-Erwartungen erfüllt. Zudem kennt sie vom eigenen Museum scharfe politische Auseinandersetzungen: „Die Documenta ist nicht die einzige Institution, die ein schweres Jahr hinter sich hat.“ Mit ihr geht die Documenta auf Nummer sicher: bloß keine Experimente mehr aus dem Globalen Süden.
„Wie kann man Krisen überleben und weitermachen?“, fasste Beckwith ihr zehnseitiges Konzept zusammen, mit dem sie sich gegen vier weitere Kandidaten durchsetzen konnte, die zur finalen Vorstellung in den letzten drei Tagen nach Kassel angereist waren. „Kunstschaffende sind Meister der Improvisation. (…) Sie entwickeln Möglichkeiten der Imagination“, lautet ihr Rezept. Es klingt nach Medizin für das gebeutelte Großevent, dem wie beim letzten Mal wieder 42,2 Millionen Euro von Land, Bund und Kommune zur Verfügung stehen.
Auf die Frage, wie sie eine Documenta bis 2027 mit einem Jahr weniger Vorbereitungszeit stemmen wolle, antwortete die Kulturmanagerin ebenso routiniert wie lässig, dass auch andere Großausstellungen in kurzer Zeit zustande kämen. Dabei mag sie an ihre andere Nebentätigkeit gedacht haben: Auch die Herbstausstellungen im nächsten Jahr im Pariser Palais de Tokyo mit dem Thema „American Season“ stehen unter ihrer Leitung. Ähnlich beruhigend sollte ihre kategorische Ansage klingen, dass sie jegliche Form von Antisemitismus und Rassismus nicht toleriere.
In Anspielung auf das erst am Eröffnungstag entrollte Banner der letzten Ausstellung mit diskriminierenden Darstellungen versprach die neue Documenta-Chefin, sich die ausgewählten Werke vorher anzuschauen. „Es wird keine Überraschungen geben“, kündigte sie an.
Den Vertrauensvorschuss hat Naomi Beckwith. Sie könnte als Retterin der von manchen schon totgesagten Documenta in deren 77-jährige Geschichte eingehen.
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