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Sandra Hüller in Anatomy of a Fall von Justine Triet

© Cannes Promo

Halbzeitbilanz des Cannes Festivals: Starker Wettbewerb, jetzt auch mit Sonne

Sandra Hüller hat im Gerichtsdrama „Anatomy of a Fall“ ihren zweiten bravourösen Auftritt. Ein weiteres Festival-Highlight eines überzeugenden Jahrgangs.

Von Andreas Busche

Die gute Nachricht des Wochenendes kam am Sonntag von oben: Im Verlauf des Sonntags brach endlich wieder die Sonne durch die graue Wolkendecke über dem Festival. Bis dahin sind Regenschirme in den Schlangen vor dem Palast das dominierende Bild der ersten Cannes-Tage gewesen. Die französische Riviera ist im Mai, wie auch das Cannes Filmfestival, eine launische Diva; Festivalveteranen erdulden die meteorologischen Bedingungen wie immer stoisch.

Doch natürlich möchte niemand Hollywoodstars durchnässt über den roten Teppich laufen sehen, schließlich ist Cannes nicht zuletzt wegen seiner mediterranen Temperaturen in der Filmbranche so populär. Und auch auf TikTok, dem offiziellen Partner des Festivals, machen sich Regenschirme nicht unbedingt vorteilhaft aus. So waren Sonnenbrillen an den ersten Tagen an der Croisette, eine Art Trotzreaktion, ein beliebtes Accessoire.

Gerichtsszenen einer Ehe

Alle reden übers Wetter? Keineswegs. In der ersten Festivalhälfte lässt sich der Regen auch deswegen ertragen, weil der Wettbewerb in diesem Jahr auf der ganzen Linie überzeugt. Nuri Bilge Ceylan, die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania mit ihrem hybriden Familienporträt zwischen Spiel- und Dokumentarfilm „Four Daughters“ (von denen sich zwei dem islamischen Dschihad in Lybien anschlossen), Catherine Corsinis mit „Le Retour“, der Japaner Koreeda Hirokazu mit dem Teenagerfilm „Monster“ – sie alle haben die hohen Erwartungen bislang erfüllt.

Und dann ist da noch Jonathan Glazers Auschwitz-Drama „The Zone of Interest“, nach einem Roman des gerade verstorbenen Martin Amis, das im Sujet des Holocaustfilms eine neue radikale erzählerische Form gefunden hat. Sandra Hüller spielt darin die Frau des Lagerkommandanten mit erschütternder Eisigkeit.

Cannes 2023 könnte tatsächlich Hüllers Festival werden. Mit dem zweiten Wettbewerbsbeitrag „Anatomy of a Fall“ zeigt sie am anderen Ende des thematischen Spektrums auch ihre ganze darstellerische Bandbreite. In Justine Triets Gerichtsdrama spielt sie die deutsche Schriftstellerin Sandra, die nach dem tödlichen Sturz ihres französischen Ehemanns Samuel (Samuel Theis) des Mordes verdächtigt wird.

Bekommt Sandra Hüller dieses Jahr ihre Palme?

Was sich zunächst wie ein Whodunnit entspinnt, entpuppt sich im Verlauf des Prozesses, der einen Großteil des Films einnimmt, aber weniger als ein Erkunden der Schuldfrage, sondern als die Anatomie einer Ehe. Die Wahrheitssuche, ob Mord oder Suizid, legt Schicht für Schicht eine komplizierte, nach einem tragischen Unfall sich langsam auflösende Beziehung offen.

Natalie Portman, Charles Melton und Julianne Moore sind die Stars in Todd Haynes’ Melodram „May December“.
Natalie Portman, Charles Melton und Julianne Moore sind die Stars in Todd Haynes’ Melodram „May December“.

© action press/JACOVIDES-MOREAU / BESTIMAGE

Hüller manövriert ihre Figur, die des Mordes angeklagt wird, bevor sie überhaupt die Zeit hat, den Tod ihres Ehemanns zu betrauern, emotional feinnervig durch den Prozess. Gleichzeitig versucht Sandra ihren elfjährigen, nach einem Umfall erblindeten Sohn (Milo Machado Graner) vor der erschütternden Realität ihrer Ehe zu schützen.

Es ist ein schauspielerischer Drahtseilakt, weil Hüllers Figur nie um die Sympathien der Jury im Gerichtssaal buhlt. „Anatomy of a Fall“ will sich keiner absoluten Wahrheit annähern. Doch nicht etwa, weil die Schuldfrage – wie in Alice Diops ähnlich gelagertem Drama „Saint Omer“ – von Beginn an klar ist; sondern weil zwischenmenschliche Beziehungen, zwischen Charakterschwächen, persönlichen Kränkungen, Egoismen sowie einer Vielzahl vertrauter Momente, am Ende immer ein Konstrukt subjektiver Erfahrungen bleiben. Gut möglich, dass Sandra Hüller in diesem Jahr ihre Palme erhält, die ihr vor sieben Jahren für „Toni Erdmann“ verwehrt wurde.

Todd Haynes mit starbesetztem Camp-Melodram

Ein vom Ton her leichterer Kontrast des häuslichen Ehelebens, mit subtil-maliziösen Spitzen und melodramatischen Überzeichnungen (nicht zuletzt durch Marcelo Zarvos’ von Michel Legrand „gesampeltem“ Score) ist Todd Haynes’ campy Drama „May December“. Natalie Portman spielt eine junge Schauspielerin, die zu Recherchezwecken für ihre erste große Rolle bei der Familie von Gracie (Julianne Moore) und dem fast dreißig Jahre jüngeren Joe (Charles Melton) einzieht.

Gracie saß wegen des sexuellen Missbrauchs des damals 13-Jährigen im Gefängnis, inzwischen haben sie eine kleine Familie gegründet. Sie ist eine Stütze der kleinen Community – und demnächst die Hauptfigur ihres eigenen Kinofilms über die unglaubliche Liebesgeschichte.

Auch Haynes balanciert einen schmalen Grat; man meint, Anspielungen auf Roman Polanski im Drehbuch von Samy Burch zu vernehmen. Aber „May December“ interessiert sich weniger für moralische Fragen, auch wenn Haynes Gracies sozialen Status und ihr Selbstbild immer wieder mit spöttischem Unterton inszeniert. Sie hat für ihre Schuld gesühnt. Haynes macht sich aber genauso über die Lust der Öffentlichkeit auf Gossip lustig – und über die Selbstverliebtheit der Unterhaltungsindustrie.

Charles Meltons Joe wird dabei zur eigentlichen Hauptfigur. Ihm wurde die Kindheit genommen, und nun lebt er mit Mitte dreißig in einem Zustand arretierter Adoleszenz. Davon, was „die Erwachsenen“ tun, hat er nur eine sehr eingeschränkte Vorstellung. So liegt über den sonnendurchfluteten Bildern von „May December“ ein dunkler Schatten, der Haynes’ Blick keineswegs entgeht. Sein Film ist eine böse kleine Allegorie auf die Gesellschaft und die Filmbranche, die gleichzeitig im Glanz der beiden Darstellerinnen schwelgt. Perfektes Cannes-Kino also.

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