
© filmfaust/Film Five
Liebe, Deutschmark und Tod: ein Musikdokumentarfilm auf der Berlinale: Heimatklänge aus Almanya
Panorama Dokumente: „Ask, Mark ve Ölüm“ von Cem Kaya feiert die Pop gewordene Musikkultur türkischer Einwanderer in Deutschland
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Da schimpfe noch mal jemand auf die Öffentlich-Rechtlichen! Das Gros des irren Archivmaterials, das der Filmemacher Cem Kaya für „Aşk, Mark ve Ölüm“ (Liebe, D-Mark und Tod) zusammengetragen hat, stammt aus Fernsehbeständen. Über 35, 40 Jahre habe beispielsweise der Westdeutsche Rundfunk das Leben türkischer Einwanderer dokumentiert, erzählt der Regisseur, der mit seinem Team monatelang Berichte und Dokumentarfilme gesichtet und katalogisiert hat. Sogar zwei ausführliche Dokumentationen über türkische Musik aus den siebziger und achtziger Jahren waren darunter.
Anthropologischer Blick auf Gastarbeiter
Der anthropologische Duktus der Filmausschnitte aus den sechziger und siebziger Jahren wirkt heute unfreiwillig komisch. Der Kommentatorenton ist aufklärerisch statt diffamierend. „Man schaut mit der Lupe auf das Phänomen Gastarbeiter und will es verstehen“, kommentiert der 1976 in Schweinfurt geborene Cem Kaya. „Das wollen wir Deutschen ja immer: verstehen. Nur manchmal gibt es nichts zu verstehen, sondern nur zu fühlen.“
Da kommt dann die Musik ins Spiel, die für die Arbeitsmigranten in der Fremde identitätsstiftend war. Auch türkische Filme über die keineswegs rosige Situation der Landsleute im kalten Deutschland dienten als Quelle. Und die Privatarchive von Hochzeitskameramännern, aus denen Bilder von Riesenfesten stammen, auf denen Livemusik wie etwa der psychedelische Diskorockfolk der Band Derdiyoklar zelebriert wird, als sei es ein Konzert.
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Cem Kayas fetziger, bittersüßer Dokumentarfilmessay bietet nie gesehene Einblicke in ein unterbelichtetes Stück deutscher Kulturgeschichte. Den in Deutschland geschriebenen, produzierten und teils in Millionenauflage verkauften Songs der Einwanderer aus der Türkei.
Wir zeigen auch den Spaß, den die Musiker hatten
Popkultur und Massenphänomene sind die Themen des 1976 in Schweinfurt geborenen Filmemachers, seit er in Stuttgart bei Diedrich Diedrichsen und Christoph Dreher studierte. „Remake, Remix, Rip-Off“, sein Dokumentarfilm über die auf den Nachdreh von Hollywood-Blockbustern spezialisierte türkische Filmindustrie wurde in Locarno uraufgeführt.
„Wenn man migrantisches Leben in deutschen Filmdokumenten sieht, dann leiden ja alle immer so. Wir zeigen nicht nur das, sondern auch die Unterhaltungsindustrie und den Spaß, den die Musiker hatten, damit man nicht nur die Opferrolle bedient.“

© filmfaust/Film Five
Gegen die haben sich vor „Ask, Mark ve Ölüm“ schon Imran Ayata und Bülent Kullukcu gewandt, als sie 2013 die erste Kompilation von „Songs of Gastarbeiter“ herausbrachten, der jetzt im Januar Teil 2 folgte. Auf dieser Pionierarbeit ausgegrabener Songs, die sich ironisch und bitterböse mit der sozialen Situation der Arbeiter und ihrer Ablehnung durch die deutsche Gesellschaft auseinandersetzen, baut auch Cem Kaya auf.
Seine tönende Enzyklopädie der Musikstile und Künstlerbiografien lässt neben Sängerinnen und Musikern auch Musikverleger, Kassettenhändler, Gazino- und Hochzeitshallenbetreiber auftreten, die sich an die glorreiche Zeiten erinnern.
[Letzte Berlinale-Vorstellungen: 19. 2., 14 Uhr (Cubix 9), 20. 2., 15 Uhr (Zoo Palast 2). Rapid Eye Movies bringt des Film im Herbst ins Kino.]
Genauso wie es in Kreuzberg so gut wie keine Cafés mehr gibt, in denen türkischstämmige Männer Karten spielen, ist auch die Musikkultur der ersten Einwanderer-Generation und ihrer Kinder längst im Popamalgam des deutschen und türkischen Hip-Hop der Enkel und Urenkel aufgegangen.
Türkischer Hip-Hop wurde in Deutschland erfunden
Dass der türkische Hip-Hop in Deutschland erfunden wurde, ist auch eine Geschichte, die Cem Kaya in seiner alternativen Nachkriegsmusikgeschichte erzählt. Mit ihren in Deutschland produzierten Songs füllte die Gruppe Cartel in den Neunzigern in der Türkei Stadien. Ein Beispiel für die Rückkopplungen zwischen neuer und alter Heimat, die der Film schildert.

© Cem Kaya
Bestürzend ist, dass die durch den Sänger Muhabbet oder die Rapperin Aziza A repräsentiere Postmigrantengeneration kaum mit dem eigenen künstlerischen Erbe vertraut ist. Mit Leuten wie Yüksel Ökazap, der Nachtigall von Köln, die in ihren „Liedern aus dem Exil“ Heimweh und Isolation der Männer und Frauen aus der Türkei in wehmütigen Arabesken besang.
Ein Drittel der Menschen, die zum Arbeiten nach Deutschland kamen, waren Frauen. Oder dem Protestrocker Cem Caraca und seiner Band „die Kanaken“, der in der Türkei politisch verfolgt wurde und seine bissigen Texte auf Deutsch darbot.
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„Darüber wird nicht berichtet, die Überlieferung findet nicht statt“, sagt Cem Kaya. Damals in den Siebzigern, als nur Alfred Biolek türkische Musiker in seine Fernsehsendung einlud, schon gar nicht. Die Geschichte der Einwanderer sei ziemlich verschollen und versteckt, stellt Kaya fest, „Es gibt kaum Forschung und wenig Literatur.“
Eins dieser für die Musikszene wichtige Erinnerungslecks lag bis 1991 in Berlin. Der „Türkische Basar“ im U-Bahnhof Bülowstraße. Dort bieten Händler Kassetten und Tonbänder an. Und abends steigen Livekonzert im Gazino des Basars. Der Sänger Hatay Engin zählt zu den Gesangsstars, die dort regelmäßig auftreten.
Im kulturellen Gedächtnis der Stadt ist von diesem in ganz Europa bekannten Ort nichts geblieben. Das könne man als Gleichgültigkeit oder als gezielte Ignoranz werten, sagt Cem Kaya. "Bilder vom Basar existieren nicht, wir hatten das Glück, eine RBB-Doku darüber zu finden."
Niemand sei damals groß auf die Idee gekommen, das Leben dort zu dokumentieren. "Was man nicht sieht, das spürt man auch nicht." Sein Film macht dagegen greifbar, was an migrantischem Leben existiert. Jetzt liefert er die Musikdröhnung gegen das Erinnerungsleck.
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