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Die Installation „Zeitfeld“ des deutschen Künstlers Klaus Rinke in Düsseldorf.

© Ina Fassbender/AFP

Hinein in den dunklen Corona-Winter?: Jede Zeitumstellung ist eine kleine Zeitenwende

Ab Sonntag gilt die Winterzeit. Um eine Stunde werden die Uhren zurückgestellt. Wie können wir die Tage dann aufhellen?

Jede Zeitumstellung ist eine kleine Zeitenwende. Diesmal aber, wenn es in die Winterzeit geht, fürchten mehr Menschen als gewöhnlich, dass die dunklere Saison nicht nur eine Frage des Sonnenstands bedeuten mag. Also braucht es Erleuchtung. Und im Englischen meint das Wort enlightenment zugleich Aufklärung.

Obwohl wir seit der letzten Zeitumstellung am 29. März ohne Unterlass neue Nachrichten, Studien, Befunde über das mit dem neuen Jahrzehnt hereingebrochene Virus erfahren, herrscht im tiefsten Grunde weiterhin Unsicherheit.

Denn kurz vor dem nächsten Lockdown wird eine technologisch hoch gerüstete, aber psychologisch hoch verletzliche Zivilisation durch die „Biopolitik des Unsichtbaren“ (Richard David Precht) jenseits aller Naturwissenschaft erschüttert wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]

Dazu passt eine eigentlich harmlose Anekdote. Ich treffe dieser Tage einen alten, noch immer sehr wachen und zu seinen aktiven Zeiten recht berühmten Theaterintendanten. Schnell ist das Gespräch, wie heute fast immer, beim Thema Nummer 1. Der alte kopfjunge Intendant lächelt und sagt, er habe vor Beginn dieses Jahrzehnts mal ganz oben, er deutet in die Wolken, „beim großen Chef angerufen“. Weil er ein paar Fragen hatte zum Fortgang der Welt.

Welcher Welt?, antwortete der große Chef, ach so, du meinst eure kleine Kugel. Tja, er sei derzeit etwas beschäftigt, aber gleich im Jahr 2271 wäre noch ein Termin frei. Als er die Miene des irdischen Bittstellers bemerkte, fügte er hinzu: „Also gut, ich schicke euch allen vorab schon mal eine kleine Botschaft…“ Worauf der alte Theatermacher, nach einer pointierten Pause, einmal mehr lächelt.

Natürlich geht es beim Thema Nr. 1 nicht um Glauben. Oder Aberglaube. Es geht nicht wirklich um die von Albert Camus in seiner „Pest“ oder vor jetzt zehn Jahren in Philip Roths letzter großer Erzählung „Nemesis“ (altgriechisch für „Rache“) erörterte Frage, ob eine große Seuche wie eine der biblischen Plagen die Strafe fürs sündhafte Treiben der Menschen sei. Doch berührt die jahrtausendalte metaphysische Deutung auch einen ganz aktuellen, materiellen Aspekt der Krise.

Natur- und Klimapolitik ist essenziell für jegliche Prävention

Während wir jenseits aller Verschwörungsverrücktheiten seit Monaten selbst in der seriösen medialen Nachrichtenfülle zur Pandemie den Unterschied zwischen einer Informations- und einer Wissensgesellschaft erleben, gehört eine erst mit Covid-19 ins breitere Bewusstsein gelangte Erkenntnis zu den wenigen Gewissheiten: Für den Menschen potentiell hochgefährliche Viren sind auch im Zeitalter der vermeintlich eingedämmten Massenseuchen ein andauernder Teil der Natur.

Sie existieren in Reservaten von Tieren und Lebensräumen, mit denen die globalisierte Zivilisation durch ihr willkürliches Eindringen und Zerstören immer mehr in Kontakt und Konflikt gerät. Das gilt für Ebola, Sars, Covid-19 und unzählige Krankheitserreger mehr.

Die Corona-Krise hat so direkt mit mangelndem Naturschutz, mit der fortschreitenden Ausbeutung des Planeten zu tun – und damit ergibt sich ein Zusammenhang mit den Ursachen der menschengemachten Klimakrise. Versuche, die Pandemiebekämpfung gleichsam auf Kosten des Klimaschutzes zu betreiben, erscheinen daher als widersinnig. Intelligente Natur- und Klimapolitik ist essenziell für jegliche Prävention, fürs biologische Überleben der Menschheit. So lautet das rigorose Postulat.

Weil aber Klimaschutz praktisch nur in einer staatlichen wie gesellschaftlichen Koalition der Willigen und wirtschaftlich Fähigen durchzusetzen ist, geht es unterwegs ganz ohne Kompromisse kaum ab. Es gibt selbst im richtigen Leben die falschen, dennoch richtigen Momente. Eine moralische Entsprechung der physikalischen Unschärferelation.

So ist beispielsweise diskutabel, wenn in Großstädten im kommenden Herbst/Winter vor Restaurants und Cafés ausnahmsweise mal ein paar Heizpilze aufgestellt werden dürfen. Schon durch zwei autofreie Sonntage könnte der schädliche Klimaeffekt mindestens ausgeglichen werden und zugleich ein zeitlich begrenzter Beitrag für eine bedrohte Branche sowie für die Gesundheit (und Stimmungsaufhellung) vieler Menschen geleistet werden.

Eine Gesichtsmaske liegt am Straßenrand im Herbstlaub.
Eine Gesichtsmaske liegt am Straßenrand im Herbstlaub.

© Sebastian Gollnow/dpa

Der Schutz vor Gesundheitsgefährdungen ist nicht alles

Dieses Beispiel hat auch mit der nun ständig notwendigen Güterabwägung zwischen konkurrierenden Rechtsgütern zu tun. Der Schutz vor Gesundheitsgefährdungen ist nicht alles. Sonst müssten Alkohol, Autoverkehr, Rauchen oder auch viele Hochleistungssportarten generell verboten werden. Andererseits fällt es schwer, die Covid-19-Pandemie mit ihren bisher noch nicht gekannten Folgen nur als „Allgemeines Lebensrisiko“ einzuordnen.

In diese Richtung drängen freilich nicht nur die (anders als Verschwörungsverrückte) um die Wahrung von bürgerlichen Freiheitssphären besorgten Kritiker der staatlichen Gesundheitspolitik. Es sind auch, zumal in den noch stärker als Deutschland betroffenen Ländern von Indien bis Italien, die Verzweifelten. „Die Angst vor Hunger und Armut ist stärker als die Angst vor der Krankheit“, lauter ihr Aufschrei.

Das hat eine andere Dimension als die bei den Anti-Corona-Demos im Sommer vernehmbare Parole „Ich will mein altes Leben zurückhaben!“ Darin lag oftmals der überspannte Egoismus des „fidelen deutschen Mittelstands“, wie ihn schon Botho Strauß in seinen Stücken und Essays beschrieben hat.

Vielmehr hat sich der bekannte Konflikt zwischen Individualrechten und Gemeinwohl oder, weiter gefasst, zwischen Freiheit und Sicherheit durch die Pandemie und die in alle sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Sphären eindringenden Präventionsversuche dramatisch verschärft.

Gefragt wird: Was rechtfertigt die Kollateralschäden einer gutgemeinten Gesundheitspolitik, wenn berufliche und private Existenzen leiden, wenn etwa die Bildungschancen von Kindern unheilbar beschädigt werden? Und wer, das ist das Dilemma, will andererseits das Leben tausender Menschen dem Notfall opfern?

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Noch vor Kurzem bestand während und nach dem großen Innehalten beim ersten Lockdown eine rosige Erwartung: die Krise als Chance! Was die Diskussion um den Klimawandel allein noch nicht geschafft hat, komme jetzt in Gang. „Alles wird anders“ hieß Bernd Ulrichs kurz zuvor erschienene kluge Streitschrift für das neue „Zeitalter der Ökologie“.

Ins nämliche Horn stoßen unzählige Bücher, Essays, Diskussionsrunden. Selbst Richard David Prechts jüngster Bestseller „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ nimmt da im kurz vor Andruck wohl noch aktualisierten Vorwort die Kurve: „Das Virus weckt die Welt aus ihrem technotopischen Schlummer. Die wirkliche Welt ist nicht digital.“

Etwas Hedonismus gehört halt zum menschenfreundlichen Leben

Markus Gabriel, Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie in Bonn, zitiert in seinem neuen Buch „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert“ den großen Hans Jonas: „Wir wissen erst, was auf dem Spiele steht, wenn wir wissen, dass es auf dem Spiele steht.“ Auch daraus folgert Gabriel, die „Corona-Krise macht uns klarer als zuvor, wer wir sind, und eröffnet Spielräume für neuartige Entscheidungen darüber, wer wir sein wollen.“

Was zweifellos stimmt. Aber werden da auch genügend Menschen (und Mächte) mitspielen? Selbst unter treuen, sich über die neuen Pop-up-Radwege freuenden Kunden der Bio-Läden hört man den verbreiteten Wunsch, sich „hinterher“ doch auch endlich mal wieder in „den Flieger nach Süden“ setzen zu können.

Zur Zeit heißt es immer nur „Schluss mit lustig“. Doch etwas Hedonismus gehört halt zum menschenfreundlichen Leben. Eine Kneipen-Sperrstunde vor Mitternacht kränkt indes noch nicht die Menschenwürde und bringt keine Wirte um. Denn erst jenseits solcher relativer Luxus-Sorgen beginnt die Rilke’sche Botschaft „Du musst dein Leben ändern“. Wenn es ums Überleben geht. Ums Überleben auch künftiger Generationen auf dieser Erde.

Appell an die regierte, reagierende Zivilgesellschaft

Ohne ein größeres Maß an Freiwilligkeit und sozialer Eigenverantwortung der zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Verstand und Verdummung hin- und hergeworfenen Einzelnen geht es tatsächlich schwer weiter. Doch sehen die Menschen hinter ihren Masken die komplexe Weltlage heute gleichsam mit „Eyes Wide Shut“.

Der so betitelte letzte Film von Stanley Kubrick hatte am Ende des vergangenen Jahrhunderts mit seinem traurig frivolen Maskentreiben zwar eine andere Geschichte. Aber der Titel trifft umso mehr. Wie auch ein verblüffend hellsichtiger Satz von Peter Sloterdijk aus seinem schon 2009 zum Thema „Anthropotechnik“ erschienenen, wiederum Rilke zitierenden Buch „Du musst dein Leben ändern“: „Wir brauchen keinen Kommunismus, sondern einen Ko-immunismus.“

Angesichts der von keinem Gesundheitsamt, keiner Corona-App und durch keine Ordnungskräfte mehr nachverfolgbaren Menge an real oder potenziell Infizierten, bleibt den Regierenden derzeit fast nur noch der Appell an die regierte, reagierende Zivilgesellschaft. Es ist das Prinzip Hoffnung.

Dieser Tage erst hat das MoMA in New York unterm Signum „The Future is Unwritten“ Poeten, Musiker und Neurobiologen zum Thema „The Art and Science of Hope and Justice“ zusammengebracht. Auch diese Verbindung gehört zum Zeitenwechsel, zum Wechsel auf die Zukunft. Die Kunst und Wissenschaft der Hoffnung, auch auf Gerechtigkeit – im Museum.

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