
© Masa Zaher
Graphic Novel „Die Balkanroute“: Reem Helou hat ihre Flucht gezeichnet
Die Syrerin Reem Helou, 39, ist 2015 mit zwei Freundinnen nach Berlin geflüchtet. Die Illustratorin will mit einer Startnext-Kampagne ihren Comic-Lebenstraum realisieren.
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Mitten im Albtraum duftet es nach Erdbeeren. Das Schlauchboot zwischen der Türkei und Lesbos ist voll Wasser, der Motor stockt, alle sitzen in Todesangst gedrängt. „Und dann musste ich schmunzeln“, erzählt Reem Helou. „Eine Freundin hatte, wie von den Schleppern verlangt, Gepäck abgeworfen, aber nicht ihre Bodylotion.“ Lächeln gegen Panik und Erstarrung, laut Trauma-Psychologen ein Segen.
In der Graphic Novel, an der die gebürtige Syrerin Reem Helou seit acht Jahren parallel zum Alltag in Berlin arbeitet, finden sich viele dieser absurd wirkenden Szenen zwischen Heulen und Humor. Die heute 39-jährige Bühnenbildnerin und Illustratorin nimmt ihre Leserschaft mit auf den Roadtrip dreier Frauen zwischen Leben und Tod, inmitten vieler junger Männer und Familien. Für die in Mitte wohnende Künstlerin aus Damaskus gab es 2015 keine andere Option als die Flucht vor allen „nur denkbaren Arten von Ungerechtigkeit und Tod“. Sogar der Bewacher eines Checkpoints in Syrien ist da neidisch, sieht man auf einem Bild: „Steck uns doch mit in die Tasche. Ich würd gerne mal Borussia Dortmund live erleben.“

© Reem Helou
Entweder wir brechen in Tränen aus, oder wir machen uns über dieses verdammte Schicksal lustig.
Reem Helou, Illustratorin, Bühnenbildnerin und Master of Fine Arts
Dass sie ihre Geschichte voller Tragik und Chaos, Hoffnung und unerwartet komischen Momenten erzählt, „darüber sind viele Deutsche erstmal verwundert, die Balkanroute ist für sie allein mit Leid und Tod verknüpft“, erzählt Reem Helou. „Wir hatten zwei Möglichkeiten, mit dem zermürbenden Druck umzugehen: entweder, wir brechen in Tränen aus, oder wir suchen in unserer Fantasie und unserer Seele nach etwas, um uns über dieses verdammte Schicksal lustig zu machen und weiterzugehen.“

© Reem Helou
Reem, Sarah und Dana wurden, wie vielen Flüchtlingen, wohl gefälschte serbische, kroatische, französische und deutsche Personalausweise und Pässe präsentiert. Sie fragten sich: Warum entscheidet nur eine Plastikkarte darüber, ob ich als Mensch unter Bomben oder im Frieden leben darf? Helou floh 25 lange Tage und 25 Nächte, davon viel zu Fuß. Der letzte geliebte Verwandte, von dem sie sich verabschiedet, ist am 24. September 2015 ihr kleiner Bruder. Ankunft im neuen Leben in Berlin: 17. Oktober 2015, 2.30 Uhr.
Ihre Schwester überlebte Israels Angriff auf Damaskus durch Glück
Ihre Schwester, die in Damaskus lebt und in einem Gebäude gleich neben dem Verteidigungsministerium arbeitet, hat die israelischen Bombenangriffe am Mittwoch, 16. Juli 2025, nur dadurch überlebt, dass sie an diesem Tag krank war und nicht zur Arbeit konnte.
Alles mit Fotos und Google-Maps-Screenshots zu dokumentieren, gab der Künstlerin Halt. „Auch, wenn wir auf den letzten Etappen fast bewusstlos waren vor Müdigkeit und Erschöpfung.“
Jetzt gibt ihr die Resonanz auf ihr Anliegen Kraft: Für die finale Realisation der Doku des Frauen-Roadtrips in die Freiheit, die Graphic Novel „Die Balkanroute“, fehlten am 17. Juli 2025 noch knapp 2200 Euro für die Spendenkampagne auf der Online-Plattform Startnext, und zwar für Übersetzung, digitale Bearbeitung, Druck und Versand.
Nach der ersten Tagesspiegel-Berichterstattung stiegen die Spendenbeträge stündlich, schon einen Tag später war die Zielsumme von 7000 Euro erreicht. Helou weitete die Aktion aus, jetzt liegt die Wunschsumme bei 8900 Euro bis Ende Juli. Am 22. Juli waren schon Spenden und Bücherbestellungen in Höhe von 8366 Euro eingegangen. Vielleicht findet sich mittelfristig sogar ein Verlag, hofft Reem Helou..

© Reem Helou
Erstes Material für ihre künstlerische Arbeit konnte die Frau mit dem wachen Blick und dem warmen Lächeln dank eines Stipendiums der Cultural Ressource Foundation kaufen. „Mich haben einige Menschen ehrenamtlich unterstützt, auch professionelle Texter und Dramaturgen, etwa bei der Übersetzung.“ Das Buch wird es zuerst auf Deutsch geben; später auf Englisch und Arabisch.
In Potsdam den „Master of Fine Arts“ an der Film-Uni gemacht
Deutsch zu lernen, sei schwer. Und doch hat sie 2023 ihren Master of Fine Arts an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf in Potsdam mit „sehr gut“ abgeschlossen. Die Uni unterstützte sie auch bei dem Comic-Vorhaben. In der Masterarbeit im Fachbereich Szenografie mit Studienschwerpunkt Production Design heißt es, dass die meisten Menschen nicht verstehen, „was es bedeutet, seine Familie, sein Land, seine Freunde zu verlassen und sich der Gefahr auszusetzen, sogar sein Leben zu riskieren, um aus der Hölle herauszukommen“. Man ahnt es beim Blick auf die Bilder.

© Reem Helou
Im vorigen Leben, in Syrien, hat Helou als Kostüm- und Szenenbildnerin gearbeitet, an Buchprojekten und Zeitschriften für Kinder mitgewirkt, wie von 2008 an für das „Osama’s Children’s Magazine“ vom Kulturministerium der Assad-Regierung in Damaskus. „Man konnte nicht mit mehr Einnahmen rechnen als Zigaretten für zwei Wochen kosten, egal wie berühmt oder hochrangig ein Zeichner war“, erzählt sie.
Dank des guten Verhältnisses zur Chefredakteurin ließ ihr diese beim Zeichnen, Gestalten und der Wahl der Technik ihrer Comics freie Hand. „Bei meiner Arbeit als Bühnenbilderin hatte ich solche Freiheiten nicht. Viele Dinge waren nicht verhandelbar, wie die künstlerische Vision des Regisseurs oder die Anzahl der, auch berühmten, Schauspieler.“ Das Theater sicherte den größten Teil des Einkommens, als Illustratorin fand sie ein Ventil.

© Reem Helou
Themen wie Politik und illegale Einwanderung werden in „Die Balkanroute“ bewusst über Haupt- und Nebenfiguren transportiert. Und dann gibt es die ganz menschlichen Details. Als sie hinterm Busch austrat, nachts am Strand in der Türkei, erschrak sie sich zu Tode. Die Geräusche, kein Monster, ein Kind. Aber die Schlepper waren Monster, sie hatten Waffen, sie belästigten die Frauen sexuell, einer bot mit offenem Hosenschlitz günstigere Preise an. Dana, Sarah und Reem sind solchen Situationen todesmutig entkommen.
Hoffen auf eine feste Stelle
„Wenn Frauen die Welt regieren würden, gäbe es weniger Gewalt und Krieg“, ist Helou überzeugt. Aktuell denkt sie über eine Action-Serie, einen Film oder ein Theaterstück nach, über verrückte und ungewöhnliche Lebenswege syrischer Frauen in Berlin, die sie kennt, und deren Storys entgegen allen Klischees noch niemand gehört hat. Gern würde sie eine Tätigkeit bei Film, TV oder Fernsehen als feste Mitarbeiterin finden; als Freie, wie in der Branche üblich, hat sie auch nach Jahren noch keinen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Doch auch mit diesem Status will sie endgültig im neuen Leben in Berlin ankommen.

© Reem Helou
Und jetzt die Graphic Novel beenden. „Die Farben für den Himmel entsprechen dem Gefühl für den Ort darunter.“ Vom matten Ocker Damaskus’ über hellbblauem UN-Zelt-Himmel in Osteuropa bis Grau Berlins. Das Buch liest sich wie im Arabischen, und bei Mangas, aus hiesiger Sicht verkehrt herum, von hinten nach vorne und von rechts nach links. Alles spiegelverkehrt umzustellen hat sie versucht, aber das sah nicht gut aus. „Außerdem ging auch die Strecke von Osten nach Westen, von rechts nach links“, fügt Helou hinzu. Durch die Geschichte führt ein auktorialer, also allwissender Erzähler, „meine innere Stimme“.
Sie weiß auch von „Mord und Tod in all seinen seltsamen und unfassbaren Formen“ in Syrien. Der Film von Rainer Werner Fassbinder, „Angst essen Seele auf“, auch das kenne sie.

© Reem Helou
Auf der Balkanroute schützte Helou das kostbare Alleskönner-Smartphone mit Frischhaltefolie und Einmalhandschuhen vor dem Salzwasser des Mittelmeeres. Die Schuhe noch triefend, zog sie sich in einer Hotelanlage in Griechenland um, erhobenen Hauptes, als wäre sie eine Touristin. Urlauber halfen oft, reichten Wasser oder Essen an, geschockt auch von den erstarrten oder weinenden Kindern am Strand.

© privat
In Berlin fühlt sie sich manchmal niedergeschlagen, die Absagen nach Bewerbungen. Oder wegen Arbeitsbedingungen für Freie beim Film, als sie mal in einem riesigen Gebäude mutterseelenallein ein Modell bauen musste, oder Möbel schleppen. Aber: Sie hat schon ganz anderes geschafft.
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