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Mia (Romane Hemelaers) muss täglich ihre Zähne aus Eis auswechseln lassen.

© Anti-Worlds Petit/Film FraKas/BFI/Channel Four

Horrormärchen „Earwig“ auf Mubi: Das Mädchen mit den Eiszähnen

Die französische Regisseurin Lucile Hadžihalilović hat sich mit fantastischem Traumkino einen Namen gemacht. „Earwig“ führt ins dunkle Herz von Europa.

Von Andreas Busche

Lucile Hadžihalilović’ dritter Spielfilm „Earwig“ ist ganz eindeutig nicht in dieser Realität verankert. Seine dunklen Pfade führen in eine Welt, die äußerlich an das Europa des 20. Jahrhunderts erinnern - allerdings eine Version davon, wie man sie sich in Albträumen ausmalt. Es ist eine Reise ins Unbewusste, das die französische Regisseurin schon in ihren vorherigen zwei Filmen über Kinder erkundet hat. Ein Krieg wird erwähnt. Das Trauma ist in den milchig-gelben Bildern, die von dunklen Zimmern und schlecht ausgeleuchteten Gängen, durch die die Jonathan Ricquebourgs Kamera schleicht, bereits angelegt. Die Telefone haben Wählscheiben, ansonsten wirkt „Earwig“ aus der Zeit gefallen. Eher die Manifestation eines Geisteszustandes als einer äußeren Welt.

Aus einer Ohrmuschel heraus nimmt diese Realität Gestalt an, sie gehört Albert Scellinc (Paul Hilton): wortkarg, hohlwangig, einer, dem das Trauma in jeder Zelle seines Körpers sitzt - und das er abends in der Kneipe mit Alkohol betäubt. Albert hat eine Aufgabe, deren Sinn und Zweck sich auch nach fast zwei Stunden nicht erschlossen hat. In seiner Obhut befindet sich die junge Mia (Romane Hemelaers), seine Pflegeroutine zeigt Hadžihalilović gleich in den ersten Minuten, wortlos. (Überhaupt wird in „Earwig“ kaum gesprochen.)

Filme wie ein Labyrinth

Das Mädchen trägt eine Vorrichtung um ihren Mund, die ihren Speichel in zwei kleinen Glaskugeln auffängt, eine Apparatur wie aus einem Cronenberg-Film. Den Speichel füllt Albert in Abdrücke von Mias Gebiss, welche er einfriert. Diese Eisprothesen setzt er ihr nach der Prozedur ein. Eine Geduldsübung, so bizarr wie unheimlich. Ab und zu klingelt das Telefon, ein Stimme am anderen Ende fragt nach Mias Wohlbefinden. Das Mädchen ist jedoch keine Gefangene, es scheint vielmehr, als müsse es vor der Außenwelt geschützt werden.

Wer im Kino in Geschichten Halt sucht, muss sich in den Filme von Lucile Hadžihalilović wie einem Labyrinth vorkommen; ein Bild, das insbesondere auf „Earwig“ mit seinen dunklen Interieurs zutrifft. Ihr letzter Film „Evolution“ aus 2015 handelt von einer Gruppe Kinder auf einer französischen Insel, deren augenbrauenlose Mütter Saugnäpfe auf dem Rücken tragen und die mit ihren Kindern seltsame Unterwasser-Experimente durchführen.

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Sowohl „Evolution“ als auch „Earwig“ gewannen auf dem stets geschmackssicheren Festival von San Sebastian Hauptpreise; mit drei Filmen in knapp fünfzehn Jahren hat Hadžihalilović eine unverwechselbare Handschrift entwickelt, mit der sich die 61-Jährige außerhalb der Konventionen des europäischen Arthousekinos etablieren konnte.

Es gibt in „Earwig“ aber doch noch einen Anruf, der eine äußere Bewegung in dieser entschleunigten Welt auslöst. Albert soll Mia an einen anderen Ort bringen, sie auf das Leben draußen vorbereiten. Und um die märchenhafte Phantasmagorie perfekt zu machen, steckt er sie in einen roten Mantel und führt sie durch einen nebligen Wald. Doch solche vertrauten Motive stellen sich bei Hadžihalilović immer wieder als Finten heraus, ebenso wie nahe liegenden Vergleiche mit David Lynch oder dem fantastischen Genrekino eines Guillermo del Toro. Dass als Referenzen immer nur Namen von Männern fallen, unterstreicht Hadžihalilović’ herausragende Stellung umso mehr.

Mias und Alberts Reise ist dann aber doch nicht ganz das Roadmovie, das man nun erwarten würde. „Earwig“ bleibt vielmehr in einer hypnotische Kreisbewegung gefangen, die auch die Figuren in Bann schlägt. Bilder aus Alberts Vergangenheit und von seiner verstorbenen Frau Maria durchdringen die Zeit- und Bewusstseinsschichten, das Gemälde eines Landhauses, das die Menschen heimsucht, scheint sich ständig zu verändern. Und die Zufallsbekanntschaft Celeste (Romola Garai), durch einen Unfall auch äußerlich gezeichnet, entwickelt eine nahezu stumme Verbindung zu Albert, die von ihrer beider Einsamkeit und ihrem Schmerz geprägt ist.

Ihre Reiseroute lässt sich nur auf einer Karte der Imagination nachzeichnen. „Earwig“ bleibt sehr bestimmt dem Zwischenreich von Traum und Realität verhaftet, deren Logik Hadžihalilović‘ Regeln entspringt. Ihre Bilder wollen sich in keine symbolische Ordnung überführen lassen, weder Mias Eiszähne, die später durch eine Glasprothese ersetzt werden, noch der titelgebende Ohrenkneifer, mit dem sie in ihrer Isolation spielt. Die Fantastik von Lucile Hadžihalilović fußt einzig und allein auf dem Glauben - und Zyniker mögen das heutzutage für altmodisch-naiv halten - an das Kino.

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