Kultur: Ich schaukle, also bin ich
„Faites vos jeux!“ – eine Ausstellung über Kunst und Spiel in der Berliner Akademie der Künste
Die Studenten, die sich im Kreis stehend an den Händen halten, krümmen sich immer wieder anfallsartig vor Lachen. Ein Spiel, doch komisch ist es nicht. Denn Strom wird durch ihre Hände gejagt. Wer vor Schmerz loslässt und damit den Kreislauf unterbricht, scheidet aus, wie bei der Reise nach Jerusalem. „Vive la Résistance!“ nennt der mexikanische Künstler Gustavo Artigas hintersinnig seine Videoinstallation. Am Ende musste er selbst das Spiel beenden, denn seine Probanden wollten lachend vor Schmerz einfach nicht aufhören. Artigas ist der jüngste Teilnehmer der Ausstellung „Faites vos jeux! Kunst und Spiel seit Dada“ in der Berliner Akademie der Künste. Sie reizt zwar da und dort zur Heiterkeit, doch leichtfertig ist sie nicht. Dazu nehmen die Künstler die Sache viel zu ernst. Die Spaßgesellschaft mag daddeln, den Gameboy traktieren oder sich bei „Big Brother“ amüsieren. Der wahre homo ludens aber lässt nicht locker. Immer hat er die Regeln im Sinn, die er lustvoll überschreitet, um im gleichen Moment neue aufzustellen.
Gespielt wird, seit es Menschen gibt. Das hat erst jüngst das Deutsche Hygienemuseum in Dresden mit einer großen Ausstellung dargestellt. Als Motiv für Künstler aber wurde das Spiel erst mit dem Beginn der Moderne attraktiv, als das Bollwerk Akademie und schließlich die gesamte bürgerliche Kultur nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges zu bröckeln begannen. Spielerisch, zugleich mit der Zerstörungslust des Kindes begannen zunächst die Dadaisten, das bislang gültige Weltbild auseinander zu nehmen: In seinen Lautgedichten intonierte Kurt Schwitters nur noch Satzfragmente, Silbenkaskaden (seine „Ur-Sonate“ ist in einer Sound-Station zu hören), Hans Arp komponierte seine Bilder nach dem Zufallsprinzip, indem er Papierfetzen durcheinander schüttelte und dann fixierte.
Und noch ein Drittes brachten die Dadaisten neben den gewitzten Grenzüberschreitungen und dem Gattungsmix ins kunstvolle Jeu – die Maskerade, das Rollenspiel. Dazu gehören Hugo Balls Auftritte im Cabaret Voltaire mit kubistischem Kostüm und Marcel Duchamps Mimikry als Rose Sélavy. Von dem großen Schachspieler stammt auch der verrückteste Ausstellungsbeitrag: die Monte-Carlo-Obligation von 1924. Der intelligente Pfiffikus, dessen badeschaumverschmiertes Konterfei im Zentrum der Aktie prangt, versprach den Anteilskäufern den todsicheren Tipp mit zwanzig Prozent Dividende, nachdem er hunderttausend Ergebnisse im Roulette ausgewertet hatte. Allerdings verließ ihn bald die Lust am Spiel, die Aktie wurde nur zwanzigmal aufgelegt, ihren wahren Wert taxiert heute der Kunsthandel.
Neben den Dadaisten trieben vor allem die Surrealisten ihre Spielchen mit der Kunst. Bis heute gilt „Le cadavre exquis“ nicht nur bei Kindern als beliebter Zeitvertreib. Doch nie mehr waren die reihum auf gefaltetem Papier gezeichneten Figuren so schaurig-schön, nie mehr mit solchem Ernst erdacht. Der Zufall gebar auf diese Weise glubschäugige Köpfe mit streichholzdünnen Bäuchen und Spinnenbeinen, und trotzdem signierten die Künstler selbstbewusst jeweils ihren eigenen Beitrag zum Gemeinschaftswerk.
Was auf den ersten Blick wie ein Kinderspiel erscheint, erweist sich im nächsten Moment als schmerzhafte Tiefenbohrung der Seele. Auf grausame Weise berichten davon die verzerrten, zerbrochenen Puppen Hans Bellmers. Vierzig Jahre später greift der junge Christian Boltanski erneut auf dieses Medium zurück und erfindet ähnlich wie Bellmer sein Alter Ego: „Le petit Christian“, eine Stabpuppe mit einem Struwwelkopf wie er. Noch in den Neunzigern schlüpft der amerikanische Bildhauer und Performer Paul McCarthy ins überdimensionale Pinocchio-Kostüm und lebt verkleidet seine Aggressionen mit kindlicher Anarchie gegen sich und seine Umwelt aus.
Das Rollenspiel erlaubt den Identitätswechsel oder zumindest die Delegation geheimster Wünsche an eine andere Figur. Ähnlich schafft sich das Gesellschaftsspiel seinen eigenen Kosmos, eine Nebenwelt mit versteckten Hinweisen zur Realität. Wie schlimm es damals um das wahre Leben stand, verraten noch heute Öyvind Fahlströms Monopoly von 1970, bei dem Großmächte um die Ressourcen kleiner Länder schachern, oder sein Weltkarten-Puzzle von 1973, das in Comic-Manier die Krisenorte rund um den Globus zeigt. Von rauschhaften Glücksgefühlen beim Spiel wollte der schwedische Politkünstler offensichtlich nichts wissen. Carsten Höller hingegen, der homo ludens der zeitgenössischen Kunst, katapultiert seine Teilnehmer sofort in neue Zustände. Nur traut sich keiner mitzuspielen. Höllers Liebesschaukeln hängen schlaff von der Decke, geschweige denn, dass sich jemand das bereitliegende Phänyläthylamin als Stimulans zu spritzen wagt.
Von solch gewagten Spielchen waren die Fluxus-Künstler in den Sechzigerjahren himmelweit entfernt. Sie wollten tatsächlich wieder wie die Kinder sein. Takako Saitos Fluxus-Einkaufsläden kann man sich nähern wie Puppenstuben. Jeder darf sich hier bedienen, darf Schubläden öffnen und von George Maciunas, John Cage, Emmett Williams oder Yoko Ono winzige Kunstobjekte erwerben.
Den heutigen Spiele-Künstler dagegen ist es mit dem Spielen offenbar bitter ernst. Einen Aufschrei provozierte Mitte der Neunzigerjahre der polnische Künstler Zbigniew Libera mit seinem Konzentrationslager aus Lego-Steinen. In der Ausstellung „Faites vos jeux!“ stehen seine Lego-Kartons mit Bauanleitung, die dem dänischen Originalverpackungen perfekt nachempfunden sind. Anders als bei dem grausamen Spiel „Vive la résistance!“ des jungen Gustavo Artigas ist das zweifellos aberwitzig, nur nicht zum Lachen. Rien ne va plus!
Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, bis 1. Januar, Di–So 11–20 Uhr, Katalog (Hatje Cantz Verlag) 25 €, im Buchhandel 34 €.