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Später Debütant: der Literaturkritiker Ulrich Rüdenauer

© Agnes Meermann

Im Schweigen sprechen lernen: Ulrich Rüdenauers Roman „Abseits“

In seinem späten Debüt erzählt der Literaturkritiker aus der Perspektive eines kleinen Jungen von der Finsternis der bundesdeutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.

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Am Anfang ist viel Schweigen. „Abseits“ verrät nicht einmal den Namen seines Protagonisten. Später erfährt man, dass er Richard heißt. Noch später wird klar, dass es die frühen Fünfzigerjahre sind, in denen sich der Roman bewegt. Auch, dass die Handlung im Süddeutschen spielt – der Bad Mergentheimer Gegend nicht unähnlich, in der auch der Autor Ulrich Rüdenauer 1971 geboren wurde.

Mit „Abseits“ hat der auch den Lesern des Tagesspiegel vertraute Literatur- und Musikkritiker ein spätes Romandebüt vorgelegt, das so vorsichtig erzählt, als müsse der Autor selbst jedes Detail behutsam aus dem Dunklen hervorlocken.

Es ist die Finsternis der deutschen Nachkriegsgesellschaft, in der Täter und Opfer das Schweigen zu ihrer Überlebensstrategie erkoren haben.

Doch davon ahnt Richard nur wenig, und die Erzählperspektive, die „Abseits“ einnimmt, bleibt ganz auf der Höhe des Jungen, der auf dem Hof seines Onkels aufwächst. Von den Eltern keine Spur, nur vorsichtig werden in den Text Hinweise auf seine Mutter eingestreut.

Gegen das Schweigekartell der Nachkriegszeit

Über die erste Hälfte des Romans wird hier ein Leben geschildert, das so wenig Anteil am Weltenlauf nimmt, dass die Handlung auch hundert Jahre früher spielen könnte. Richard muss in der Landwirtschaft helfen, in der Schule wird auf Ordnung insistiert und dies notfalls mit der Rute durchgesetzt. In seiner Familie begegnet man ihm vor allem mit emotionaler Distanz, niemand hatte sich ausgesucht, noch ein Kind ernähren zu müssen.

Aufatmen kann Richard in der Gesellschaft seines gutmütigen Großvaters, oder aber wenn er allein durch die Wälder streift. Seinem Wesen nach ist er Beobachter: „So war es ihm am liebsten: sehen, ohne selbst gesehen zu werden.“ Doch bei dem Versuch, ein entlaufendes Pferd wieder einzufangen, wird der Onkel verletzt und liegt wochenlang im Krankenhaus.

Die Worte waren unter der Angst verschüttet.

Ulrich Rüdenauer in seinem Roman „Abseits“

So wird die einstudierte Routine durchbrochen, und Richard muss Verantwortung übernehmen. Gleichzeitig findet er einen Zeitungsausschnitt, der auf die Präsenz eines Mannes im Dorf hinweist: Jakub Wójcik. Wer ist der Mann? Und wie kam er ins Dorf? Eine kleine kriminalistische Ermittlung beginnt und führt zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Mit Richard wird der unwahrscheinlichste Charakter vom Roman auserkoren, gegen das Schweigekartell der Nachkriegszeit anzugehen, selbst der Gang zum Dorfladen wird zur Mammutaufgabe: „Doch die Worte waren unter der Angst verschüttet.“

Etwas mehr Noir hätte gutgetan

Aber gerade darin liegt der Reiz von „Abseits“. Rüdenauers Roman teilt mit seinem Protagonisten die genaue Beobachtungsgabe. Der narrative Kniff, den Leser immer nur so viel wissen zu lassen, wie das Auge des Jungen gerade wahrnehmen kann, erschafft eine dichte Atmosphäre.

So wie sich Richard zu orientieren versucht, so greift man beim Lesen selbst nach Halt. Mit der Kinderperspektive gerät der Roman allerdings auch manchmal etwas sehr putzig. Wirklich Angst hat man nicht, in die Abgründe zu fallen, die sich unter den Füßen der Nachkriegszeit auftun.

Etwas mehr Noir, etwas weniger holzvertäfelte Stube hätten dem Roman gutgetan. Das ändert jedoch nichts daran, dass „Abseits“ ein gelungenes Debüt über eine schweigende Gesellschaft ist, in der manche das Sprechen lernen. 

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