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Mastermind. Bernard-Henri Lévy prägt das Bild des französischen Intellektuellen in der Öffentlichkeit.

© picture alliance / dpa/Missam Saleh

Intellektuelle in Frankreich: Streit um Europa

Gegen Macron und Maastricht: Bernard-Henri Lévy, Michel Houellebecq und andere Intellektuelle Frankreichs führen vor der Europa-Wahl hitzige Debatten.

Als Bernard-Henri Lévy mit seinem Solo „Looking for Europe“ in Deutschland gastierte und diverse Interviews gab, ersparten ihm die Journalisten die vielleicht wichtigste aller möglichen Fragen: die nach der Verantwortung des politischen Intellektuellen. BHL, wie der wohl berühmteste französische Intellektuelle nicht nur in Frankreich gerne genannt wird, hatte 2011 nach Reisen ins libysche Bengasi bei Präsident Sarkozy und in den Medien massiv für eine militärische Intervention in Libyen geworben. Ihm wurde zugehört.

„Did Bernard-Henri Lévy take Nato to war?“ So fragte der „New Yorker“. Die fatalen Spätfolgen in Libyen und die Ausstrahlungen auf das derzeit fragile europäische Gefüge lassen sich aktuell verfolgen. Für den eigenen Kontinent hält BHL allerdings einen sympathischen Friedensappell bereit. Wie das zu seinem globalen Interventionismus der Vergangenheit passen soll, hätte man aus den Interviews gerne erfahren. Letzte Station vor der Wahl zum europäischen Parlament ist für Lévys „Looking for Europe“ an diesem Dienstag das Théâtre Antoine in Paris.

BHL sieht sich in der Tradition eines Jean-Paul Sartre, er ist der Begründer einer Renaissance des Intellektuellen in Medien und politischer Öffentlichkeit, die man bei seinem Aufkommen spöttisch „prêt-à-penser“ nannte, ein Philosophieren in meinungsmarktkonformen Denkhäppchen. Schauplatz ist vor allem das Fernsehen. Seit Jahren beschert es den Franzosen selbst für banalste Debatten philosophische oder besser pseudophilosophische Beiträge.

Neue politische Lagerbildung

Dabei teilt BHL mit anderen französischen Medien-Philosophen ein nicht zu unterschätzendes Problem: Die Präsenz in Politik und Medien befriedigt zwar die oft erheblichen Geltungsbedürfnisse und Machtinteressen, die Qualität der eigenen intellektuellen Auseinandersetzung leidet allerdings massiv unter dem Zwang zu medienkompatibler Verkürzung. Polemik und Demagogie bestimmen nicht selten den Ton.

Beim Thema Europa stand die Kompassnadel in Frankreich allerdings nie so richtig in Richtung Brüssel. Zweimal wurden der Bevölkerung im Nachbarland Europaverträge zur Abstimmung vorgelegt; beide Male wurden sie abgelehnt: Im Referendum von 1992 lehnte eine knappe Mehrheit den Vertrag von Maastricht ab, 2005 votierte die Mehrheit gegen die Europäische Verfassung. Die Maastricht-Gesetze haben dennoch in Frankreich Geltung. Die Missachtung des Volkswillens hat bis heute Auswirkungen auf die französische Europadebatte der Intellektuellen.

Der Philosoph und Historiker Michel Onfray schlug, quer zum überholten Links-Rechts-Schema, eine neue politische Lagerbildung vor: linke und rechte Maastrichtianer versus linke und rechte Souveränisten. Die Maastrichtianer, die dann gern mit Wirtschaftsliberalismus assoziiert werden, stellen den politischen Mainstream von den Resten der Parti Socialiste bis zu den konservativen Républicains, mit ihren diversen Schattierungen in den urbanen Eliten in Kultur, Medien und Politik. Die Souveränisten stehen für Teile der immer stärker werdenden Widerstandsbewegungen auf dem Land, rechtsnationalen Parteien wie der Rassemblement National der Marine Le Pen und Teilen der Gelbwesten, die die Europawahl zu einer Anti-Macron-Wahl ummodeln wollen.

Widerstand der Provinzen

Anders als in Deutschland lassen sich Euroskeptiker und Anhänger der staatlichen Unabhängigkeit aber auch deshalb nicht so leicht als rechte Ewiggestrige marginalisieren, weil es der Rassemblement National, wie der Front National heute heißt, zweimal in die Stichwahl um das Präsidentenamt geschafft hat: Marine Le Pen 2017, ihr Vater Jean-Marie Le Pen 2002. Das französische Wahlrecht ist Grund für diese merkwürdige Konstellation. Onfray hält die Tatsache, dass sich das Schreckgespenst des Rassemblement National den Franzosen so als die einzige Alternative zum ebenso missliebigen Maastricht-Europa des Emmanuel Macron präsentiert, für den Garant des Fortbestandes neoliberaler europäischer Verhältnisse.

Als Jean Marie Le Pen 2002 in die Stichwahl kam, reagierte der populäre Vielschreiber Onfray, dessen Bücher auch in Deutschland erscheinen, mit der Gründung einer Volksuniversität, mit einer Bildungsmaßnahme also. Der Neo-Hedonist ist vehementer Kritiker des Maastricht-Europa und versteht sich als linker Souveränist. In der alten Lagerbildung der französischen Revolution sieht er sich als Girondist, als Vertreter des Widerstands der Provinzen gegen die Vorherrschaft der Jakobiner und der dirigistischen Metropole Paris.

Dieser historische Gegensatz bricht im Frankreich der Gegenwart wieder auf. Sein rechter Gegenspieler im Lager der Souveränisten ist der Journalist und Essayist Éric Zemmour, der seit Jahren regelmäßig gegen Islam und Migration polemisiert. Ende April debattierte er im Rahmen einer von konservativen bis ultra-konservativen Zeitschriften organisierten Veranstaltung im legendären Cirque d'Hiver vor 1700 Zuschauern unter dem Titel „Dialogues sur l'Europe“. Dort sagte Zemmour, Europa sei heute das Trojanische Pferd, mit dem die Gesetze der Globalisierung durchgesetzt würden, es habe seine zivilisationsgeschichtlichen Wurzeln vergessen.

Patchwork-Visionen von Vielfalt

Ein anderes Panel bot dem Starliteraten Michel Houellebecq ein Forum. Seinem Gesprächspartner stellte der Romancier eine Frage, die Frankreich bis heute spaltet: Wie hast du 1992 abgestimmt? Houellebecq jedenfalls stimmte damals nach eigenem Bekunden gegen den Vertrag von Maastricht. Die europäische Welt ist ärmer geworden, sagt er, Landschaften, Kulturen und Menschen uninteressanter.

Auf der Theaterbühne ist weder linkes noch rechtes Europa-Bashing zu haben: Wenn das junge Regie-Duo Julie Bertin und Jade Herbulot eine über mehrere Jahre angelegte Trilogie über Europa in der Krise inszeniert, oder wenn Falk Richter in Straßburg „I am Europa“ einrichtet, dann sind da fast immer diverse oder enzyklopädische Dramaturgien im Spiel, Patchwork-Visionen einer Vielfalt, die sich nicht auf einen Punkt bringen lässt.

Frankreichs Debattenkultur ist längst auch ins Absurde umgeschlagen. Kurz nachdem Édouard Louis' Anklageschrift „Wer hat meinen Vater umgebracht“ auf die Bühne kam, brachte einer der namentlich genannten „Verantwortlichen“ ein Rechfertigungsbuch heraus. Auf 192 Seiten wehrt sich Gesundheitspolitiker Martin Hirsch gegen Louis’ Vorwürfe. „Wie ich seinen Vater umgebracht habe“ ist der ironische Titel.

Eberhard Spreng

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