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Edzard Reuter ist Sozialdemokrat und war einst Daimler-Chef.

© picture alliance / dpa

20 Jahre Berlin-Bonn-Gesetz (VII): Jenseits von Posemuckel

Teil VII der Debatte zum Hauptstadtgesetz: Berlin muss die Vielfalt der deutschen Traditionen verkörpern.

Für jemanden wie mich, der die Geschicke der Stadt überwiegend von außen verfolgt, hat Berlin zwei Gesichter. Da gibt es die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschlands im politischen Sinne, verkörpert durch den Bundespräsidenten, die beiden Kammern des Parlaments und die Bundesregierung. Das ist der „Gesamtstaat“, dessen „Repräsentation in der Hauptstadt“ laut Artikel 22 Aufgabe des Bundes ist. Wenn im Gespräch die Rede auf Berlin kommt, geht es aber oft um etwas ganz anderes: nämlich um Berlin als eigenständige Stadt (oder das Bundesland).

Über den Grad der Anerkennung, den die Repräsentanten des politischen Geschehens jeweils verdienen, gibt es die in einer Demokratie selbstverständlichen Meinungsunterschiede. Sie fallen, je nach der eigenen Position, unterschiedlich aus und wandeln sich entsprechend den äußeren Umständen. Anderes gilt für die Zuneigung, die Stadt und Land Berlin draußen im Land genießen. Überwiegend ist sie voller Vorbehalte. Deutlich wird das an den Schlagzeilen von kritischen Medienbeiträgen, die es sich längst angewöhnt haben, pauschal von „Berlin“ zu reden, wenn es in Wirklichkeit doch nur um die Kritik an unwillkommenen Beschlüssen von Bundestag oder Bundesregierung geht.

Was also ist los, dass Berlin bei so vielen Menschen in den anderen deutschen Ländern auf eingefleischtes Misstrauen, ja auf Abneigung stößt? Ob jung oder alt: Als touristische Besucher strömen sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Hauptstadt, erfreuen sich an den Museen, an den Musik- und Unterhaltungsdarbietungen, den Bühnen- wie Gastronomieangeboten, besuchen die Reichstagskuppel, flanieren durch die Straßen, bewundern die Auslagen und kaufen ein.

Berlin und seine Menschen waren in Deutschland nie überall beliebt

Dass die Stadt inzwischen zum deutschen Mekka für unternehmerische Kreativität geworden ist, zum Traumziel junger, neugieriger und einfallsreicher Menschen in aller Welt, weiß inzwischen jeder, genauso, dass die Ausbildung an einer der unzähligen Hochschulen beste Chancen für eine erfolgreiche Berufslaufbahn eröffnet. Und trotzdem: Ist die deutsche Hauptstadt deswegen im Gefühlshaushalt der Bürgerinnen und Bürger angekommen, ist man stolz auf sie, wird sie gar geliebt?

Freilich kenne ich in der ganzen Welt keine einzige Hauptstadt eines demokratischen Staates, die als solche geliebt wird. Im Gegenteil. Ob Paris, London, Washington, Madrid, Tokio oder Stockholm: Im besten Fall wird ihnen mit innerer Distanz begegnet, oft genug herrscht unterschwellige Abneigung, manches Mal sogar offener Neid vor. Dort wird doch nur, so meint man, auf Kosten der Allgemeinheit und im Übermaß Geld ausgegeben, um anzugeben, ja zu protzen. Gemeint ist die „Repräsentation des Gesamtstaates“ – verwechselt wird sie hingegen mit einer als ebenso unverdient wie maßlos empfundenen Subventionierung der Hauptstadt zulasten des eigenen Portemonnaies, obwohl dort doch auch nur Menschen leben wie du und ich.

Berlin geht es nicht anders. Das rechtfertigt es freilich in keinem Augenblick, arrogant die Nase zu rümpfen und sich auf die vermeintlich traditionelle Provinzialität „da draußen im Lande“ zurückzuziehen. Berlin und seine Menschen waren noch nie überall in Deutschland beliebt. Die deutsche Hauptstadt bleibt daher gut beraten, sich auch insofern an die eigenen Hausaufgaben zu machen. Dafür, dass die Stadt in den deutschen Landen endlich „angenommen“ wird, sind im Grunde genommen alle Voraussetzungen gegeben. Die verantwortliche politische Führungselite muss sich allerdings weit erkennbarer als bisher darum bemühen. Nicht zuletzt bedeutet dies, immer wieder glaubhaft zu machen, dass man das Erbe kennt und respektiert, das die verschiedenen Landsmannschaften gleichberechtigt in das Zusammenleben unserer föderalen Republik einbringen.

Berlin muss Bescheidenheit und Partnerschaft lernen

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und das Philharmonische Orchester sind, genau wie eine ganze Reihe weiterer grandioser Institutionen, einzigartige Beispiele für einen weltweit anerkannten Rang, gewiss. Doch deswegen besteht nicht der geringste Anlass, etwa die geistesgeschichtlichen oder aktuellen Leistungen, die in München, Stuttgart, Dresden, Düsseldorf oder Hamburg auf der Tagesordnung stehen, gering zu achten.

Niemals sollte sich also in Berlin hochnäsig darauf verlassen, dass ihm ein gütiges Geschick die Chance eröffnet hat, seine im Grundgesetz festgeschriebene Aufgabe als deutsche Hauptstadt wahrzunehmen. Es geht nicht um einen Anspruch, sondern um eine Verpflichtung: Stadt und Land, die für die politische Führung Verantwortlichen ebenso wie die Bürgerinnen und Bürger, müssen lernen, dass Bescheidenheit und erkennbare Bereitschaft zu gleichrangiger Partnerschaft zu ihren unverzichtbaren Aufgaben gehören, wenn Berlin auch in diesem Sinne dauerhaft und mit Stolz als gemeinsame Hauptstadt der Deutschen verstanden werden soll.

Und siehe da: Hier treffen sie sich wieder, die beiden Stränge der Wahrnehmung Berlins durch die Bürgerinnen und Bürger. Die gesamtstaatliche politische Verantwortung ist nach dem Wortlaut des Grundgesetzes eingebunden in unsere aktive Teilhabe an der europäischen Vereinigung. Diese zentrale Zukunftsaufgabe aber kann nur gelingen, wenn das Berliner Selbstverständnis sich nicht auf eine Käseglocke beschränkt, unter der sich Politik und Medien gemeinsam zu Hause fühlen. Vielmehr müssen wir endlich lernen, zu was der Rang verpflichtet, unsere gemeinsame Hauptstadt zu sein: die Vielfalt der deutschen Kultur und Traditionen in einer sich rapide wandelnden Welt zu verkörpern und zu hegen.

So werden wir Berliner uns wohl entscheiden müssen: Will sich die Stadt mit der früher einmal recht angenehmen Rolle eines Westberliner Posemuckel zufrieden geben, oder wollen wir die europäische Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland sein, in der sich alle Deutschen wiederfinden?

In unserer Debatte zum 20. Geburtstag des Bonn-Berlin-Gesetzes erschienen bisher Beiträge von Rupert Scholz, Wolfgang Schäuble, Norbert Blüm, Peter Raue, Michael Naumann und George Turner. Nachzulesen auf www.tagesspiegel.de/kultur.

Edzard Reuter

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