
© Hélène Binet
Jüdische Landhäuser in Europa: Liebermann Villa ist Teil einer Oxford-Forschung
Eine Ausstellung zeigt die Landhäuser jüdischer Bauherren. Die Architekturfotografien Hélène Binet hat sie fotografiert. Und zeigt sehr besondere Eindrücke.
Stand:
Geflügelte Putten mit zartfarbigen Blumenkränzen schweben in den Himmel. Durch die illusionistisch gemalte Rahmenarchitektur ziehen sich feine Risse. Nicht in der Villa des Malers Max Liebermann hat die renommierte Fotografin Hélène Binet dieses Detail aufgenommen. Aber hier am Wannsee war sie auch.
An einem grauen Novembertag 2021 streifte sie mit ihrer Großbildkamera über das Anwesen, nahm sich Zeit und machte, wie immer, nur wenige Aufnahmen. Binet arbeitet streng analog, beschneidet den einmal gewählten Ausschnitt niemals nachträglich.
Bekannt ist sie für ihre ungewöhnliche, fast meditative Art der fotografischen Annäherung an architektonische Räume. Mit Baukünstlern wie Daniel Libeskind, Zaha Hadid oder David Chipperfield hat sie gearbeitet. Diesmal tauchte sie in vergangene Lebenswelten ein.
Hélène Binet zeigt nur Details
Nur zwei Dutzend Aufnahmen umfasst die Ausstellung, das lässt das einzelne Bild wirken. Sie meint: „Die Seele der Fotografie liegt in ihrer Beziehung zum Augenblick.“ Und den macht sie spürbar. Der Schatten eines Lorbeerbuschs fällt auf ein Stück rau verputzte Wand von Liebermanns Villa, im knappen Ausschnitt festgehalten. Mehr ist da nicht zu sehen. Aber Garten und Haus treten in ein flüchtiges Zwiegespräch, für einen Moment.

© Hélène Binet
Fotokunst in der als Malerei-Refugium bekannten Villa Liebermann, das ist ungewöhnlich. Dahinter steht ein mehrjähriges Forschungsprojekt der Universität Oxford zu „Jewish Country Houses“ in Europa. Von Tschechien bis Italien, von Großbritannien bis Südfrankreich hat Binet ausgewählte Orte bereist, die öffentlich zugänglich sind: vom herrschaftlichen Schloss bis zur suburbanen Sommerfrische.
In einem informationsdichten 350-Seiten-Buch, das allerdings nur auf Englisch erschienen ist, bilden Binets Fotografien die atmosphärisch aufgeladene Bildebene. Es öffnet die Augen für eine bislang übersehene Facette der europäischen Kulturgeschichte. Insgesamt 1000 Anwesen haben die Forschenden identifiziert.
Sich niederlassen, Grundbesitz erwerben, ein großzügiges Anwesen ganz nach eigenem Zuschnitt erbauen oder eine geschichtsträchtige Immobilie mit viel Aufwand renovieren: Das zeugt vom Vertrauen der Bauherrenfamilien in Zukunft, vom Wunsch und Anspruch zu bleiben und einen prägenden Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Jeder Landsitz ist stolze Selbstdarstellung und privates Refugium in einem.
Jahrhundertelang war es jüdischen Zeitgenossen in Europa verwehrt gewesen, Land zu besitzen. Erst im 19. Jahrhundert gab es Rechtssicherheit, im Gefolge der jüdischen Emanzipation und Gleichstellung. Oft genug bildeten die stolzen Landsitze der wohlhabenden jüdischen Elite allerdings sogleich den Zielpunkt antisemitischer Anfeindungen.
1000 Anwesen gesammelt
Die Wandtexte in der Ausstellung erzählen von ganz unterschiedlichen Motivationen der Erbauer und Bewohner. Schlaglichtartig stellen sie Persönlichkeiten vor, reißen architektonische Bedeutung und kulturelle Ausstrahlung der vorgestellten Bauwerke an. Da ist Benjamin Disraeli, viktorianischer Premierminister Großbritanniens. Für ihn war es Pflicht, nicht Luxus, sich einen standesgemäßen Landsitz zu errichten: Hughenden prunkt in fashionabler Neogotik. Nur einen knorrigen Baum im Park zeigt Binet davon, sonst nichts.
Auf Waddesdon Manor residierte die Rothschild-Familie wie in einem Renaissance-Schloss an der Loire. In der italienischen Villa Montesca, mit ihren luftigen Wandgemälden, gab Reformpädagogin Maria Montessori auf Einladung der philantrop engagierten Hausherrin ihre Ideen weiter. Von griechischer Antike beseelt thront Villa Kérylos am französischen Mittelmeer. Und in Brno verwirklichte Mies van der Rohe die avantgardistische Villa Tugendhat, heute UNESCO-Erbe. Sie alle schreiben sich bewusst in die Architekturtradition Europas ein, sich rückversichernd oder programmatisch der Zukunft zugewandt.
In der zum Wannsee offenen Loggia Max Liebermanns nahm Binet die verblassten Wandmalereien wahr. Der größte Teil ihrer Fotografie bleibt leer, hier wich die antik inspirierte Gartenlandschaft einem späteren Türdurchbruch. Eine intensive Aura von Abwesenheit geht von dieser Aufnahme aus. Die Geschichte jüdischer Landhäuser in Europa ist auch eine Geschichte abgerissener Verbindungen und zerstörter Hoffnungen.
Gerade weil die Fotografien von Hélène Binet so wenig von diesen berühmten Landhäusern zeigen, wecken sie Neugier. Es ist, als erhasche man nur Momente, rätsenhafte Durchblicke, intime Nahsichten. Nie kommt das Ganze in den Blick. Man möchte mehr sehen, mehr darüber erfahren, am besten gleich selbst auf die Reise gehen zu diesen Orten. Nicht alle liegen weit entfernt.
Ein Landhaus, das zwar nicht in der Ausstellung, aber im Buch vorgestellt wird, steht gleich vor den Toren Berlins. In Bad Freienwalde erwarb der Industrielle und Politiker Walther Rathenau ein klassizistisches Schlösschen, das hundert Jahre zuvor eine preußische Königin errichten ließ. Er machte es zu einem Treffpunkt liberalen Geistes.
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