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Jeanine Meerapfel: Stille Tage in Buenos Aires

Nach 1933 suchten tausende Juden Zuflucht in Argentinien. Mit Kriegsende 1945 bekamen sie plötzlich neue Nachbarn: Nazis. Jeanine Meerapfel hat das miterlebt – und nun verfilmt.

Als Kind in den 50er Jahren hatte ich nur eine konkrete Verbindung zu Deutschland, dem Land meines Vaters und meiner Großeltern – und das waren Preiselbeeren. Manchmal sagte meine Stiefmutter: Ach, wenn wir nur Preiselbeeren wie im Schwarzwald hätten, dann könnten wir sie an das Wild machen. Obwohl sie gar kein richtiges Wild kochte. Meine Stiefmutter hat damals Rindersteaks in Speck eingepackt, nur um sie ein wenig nach solchen Gerichten schmecken zu lassen. Dazu hat sie sich die Beeren aus ihrer Kindheit gewünscht, wenn Besuch aus Europa kam, musste der immer welche mitbringen. Preiselbeeren und Schwarzwald, so sah lange mein Deutschlandbild aus.

Mein Vater, ein deutscher Jude, und meine Mutter, eine Französin, zogen 1937 von Süddeutschland nach Amsterdam und flohen 1941 nach Argentinien. Ich wurde 1943 in Buenos Aires geboren, später trennten sich meine Eltern, und mein Vater heiratete eine exilierte Jüdin aus Nürnberg, die Stiefmutter mit den Preiselbeeren. Für sie war Deutschland nicht mehr der Ort, an den man sich hinträumte. Sie haben zwar viel Deutsch miteinander gesprochen, ich konnte das als Kind auch verstehen, habe es aber nie gesprochen. Mein Vater hat mich nie ermutigt, Deutsch zu lernen. Unsere Familie hatte mit dem Land gebrochen. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Wie Deutsche in Buenos Aires damals lebten, exilierte Juden und Nazis nebeneinander, davon handelt mein neuer Film „Der deutsche Freund“.

Mein Vater hat extrem wenig über seine alte Heimat erzählt, er wurde sofort ein glühender argentinischer Nationalist. Und besaß den Ehrgeiz, ein perfektes Spanisch zu erlernen, obwohl er bereits älter als 30 war. Er liebte das Land, fuhr mit dem Auto in den Süden, um zu fischen, und in den Chaco, um Tabak zu kaufen. Er und meine Stiefmutter fanden, Argentinien sei der beste Ort der Erde. Meine Mutter sah das anders, weil sie die Verlassene war. Trotzdem sprach sie kaum von Europa. Sie hatte dort keine glückliche Kindheit gehabt. Es gab keine Sehnsucht nach diesem Kontinent.

Ich bin teilweise bei meiner Mutter und teils bei meinem Vater aufgewachsen. Zuerst wohnten wir in Belgrano, dann bin ich mit meiner Mutter nach Vicente López und später nach Martínez umgezogen, ein wenig den Rio de la Plata hinauf nach Norden. Mein Vater zog mit seiner Frau in den gutbürgerlichen Teil von Vicente López nach. Dort gab es kleine Villen mit Gärten, es war alles sehr gepflegt, grün, alle besaßen ein Auto, und es gab viele Sportclubs, in denen man Tennis spielte.

Der Zug von Retiro aus dem Zentrum hielt an einem kleinen Bahnhof, drumherum gab es kleine hübsche Geschäfte, in denen habe ich mir als zehnjähriges Mädchen Comicstrips gekauft. Tarzan fand ich damals toll, da gab es eine gewisse erotische Anziehung. Als Teenager war ich verrückt nach Foto-Liebesgeschichten, die waren wahnsinnig kitschig. Ich weiß noch, wie ich bei meiner Mutter auf dem Sofa im Wohnzimmer saß, Kekse aß und mit Hingabe die Heftchen verschlang.

In der Schule erzählten uns die Lehrer, wir seien das reiche Land, das das kriegsgebeutelte Europa ernährt. „Mit unserem Mais und unserem Getreide füttern wir Spanien“, haben sie uns eingetrichtert. Präsident Peron sagte einmal: „Was eine Familie in Argentinien in den Müll wirft, davon können fünf in Europa überleben.“ Mein Vater lobte oft das Fleisch. So ein gutes bekommst du nirgends, sagte er. Die Deutschen in meiner Generation haben zur selben Zeit Rüben gegessen. Mein späterer Freund, der Filmkritiker Wolf Donner, hatte sein Leben lang schlechte Zähne, weil er als Kind im Nachkriegs-Deutschland wenig und schlecht zu essen bekam.

Wir lebten gut, aßen viel Obst, Gemüse und natürlich Fleisch. Als ich in den 50er Jahren eine Zeit lang an Blutarmut litt, hat meine Stiefmutter Steaks für mich gebraten und ausgedrückt, ich musste dann das Blut trinken, damit wurde ich hochgepäppelt. Stolz erzählten mir alle in der Familie, dass das in Europa gar nicht möglich gewesen wäre. Das kleine Gerät zum Ausdrücken habe ich immer noch, ich habe es während der Dreharbeiten an mein Filmteam ausgeliehen, damit sie das Haus in meinem neuen Film so echt wie möglich ausstatteten.

Meine Großeltern väterlicherseits waren Reformjuden, ab und zu gingen sie in die Synagoge, streng religiös war keiner von uns. Sie hockten zusammen mit den anderen deutsch-jüdischen Familien, mit den Feldmans und wie sie hießen, mit denen sie ausgewandert waren und haben Deutsch miteinander geredet. Manchmal machten sie gemeinsame Ausflüge in den Süden, nach Patagonien. Manche Rituale aus Argentinien haben sie übernommen, wie das Asado, das sonntägliche Grillen, zu dem man die Freunde einlädt. Einige deutsche Sitten behielten sie bei – vor allem Kaffee und Kuchen. Natürlich gab es selbst gemachten Apfelstrudel bei ihnen. Mein Opa liebte Bubeleskuchen, das war eine Kalorienbombe, mit vielen Apfelstücken drin, sehr fettig und alles karamellisiert. Den habe ich nach seinem Tod nie wieder gegessen. Meine Tante Hed hat einen köstlichen Mohnkuchen gebacken. Der war hauchdünn, obendrauf gab es eine Creme und Mohn. Das Rezept hat sie leider mit ins Grab genommen.

Ich ging zuerst auf eine französische Schule, meine Mutter war ja Französin. Da merkte ich zum ersten Mal, dass jüdisch zu sein heißt, anders zu sein. In meiner Klasse gab es Mädchen aus der High Society, die waren alle katholisch, hochnäsig – und fanden ein jüdisches Mädchen komisch. Die anderen hatten lange glatte Haare, hübsche spitze Nasen, trugen bunte argentinische Namen wie Rosales Moreno und waren bildhübsch. Mir wurden immer die Haare geschnitten, und ich hieß Meraflor oder Meráfel, aber Meerapfel hat mich niemand genannt. Meine Eltern waren obendrein geschieden, das gab es damals gar nicht. Und ich gehörte zur ersten Generation der Einwanderer, die anderen waren schon dritte oder vierte. Meine Biografie hat mich einfach anders gemacht.

Ach, in der französischen Schule war es ekelhaft. Ich spürte oft einen Unterschied zwischen ihnen und mir. Im Film gibt es eine Szene, die ich nach eigenen Erinnerungen an die Zeit hineingeschrieben habe. Da sitzt das Mädchen in der Klasse, der Lehrer sagt: „So, alle gehen zum Religionsunterricht, nur Sie, Fräulein Löwenstein, können nach Hause gehen, die Lehrerin des Moralunterrichts ist nicht gekommen.“ Das empfand ich als Demütigung und als Makel. Als Kind will man so sein wie die anderen, ich redete doch auch Spanisch, nur besaßen meine Eltern kein Landhaus, wir gehörten nicht zur guten Gesellschaft – wir waren noch nicht richtig angekommen.

Für Juden war es zu der Zeit schwierig, in manche Sportclubs hineinzukommen. In den späten 50er Jahren besaß mein Vater ein kleines Segelboot, mit einem Außenbordmotor, dass er zusammen mit einem argentinischen Freund gekauft und angemeldet hat. Warum? Weil er im Yachtclub als Jude nicht angenommen wurde. Der Freund wurde akzeptiert, und dann teilten sie sich das Boot. Das war in den piekfeinen Clubs von San Isidro normal.

Als ich in Vicente López bei meinem Vater lebte, hatte ich eine deutsche Freundin, Mónica. Sie war schon dritte Generation, ging auf die deutsche Schule und wohnte mit ihrer Familie genau auf der anderen Straßenseite. Die Familie war so anders: viel förmlicher als wir, steifer und distanzierter. Ich fand das gut. Es gab nicht so ein Chaos wie bei uns zu Hause. Nachmittags gab es bei Mónica immer gekochten Mate mit Brot und Aufschnitt, darauf konnte man sich verlassen, bei uns war das nicht so.

Die Tragweite unserer Freundschaft wurde uns beiden erst später bewusst. Unsere Eltern wollten nichts miteinander zu tun haben, sie haben sich gegrüßt, mehr nicht. In unser Haus kamen die Juden, in ihres die Deutschen. Und natürlich die Söhne dieser Freunde: Sie waren blond, sportlich, gut aussehend, ich fand sie einfach himmlisch. So schöne blonde, hellblauäugige Jungs. Das fand ich spannend. Und das mochten meine Eltern gar nicht. Das war natürlich ein Grund, warum ich noch lieber hinüber zu Mónica ging.

Die Deutschen waren angesehen in der Gesellschaft. Deutsch hieß: sauber, ordentlich, pünktlich. Gute Arbeit. Deutsche Geräte und Autos waren wieder beliebt. Das mochte mein Vater überhaupt nicht. Er fuhr nur US-amerikanische und französische Wagen, als erstes Auto schenkte er mir später einen alten Peugeot. Bei uns zu Hause waren deutsche Marken nicht erlaubt, nicht einmal deutsche Kühlschränke. Nur Literatur ließ er gelten, die alte, die gute, die vor 1933 geschrieben worden war. Die war ihm wirklich heilig. Er hat mir die Romane von Lion Feuchtwanger und Thomas Mann gegeben, allerdings in der spanischen Übersetzung. Nie hat er mich ermahnt, ich müsse die Bücher mal im Original lesen. Er sagte nur: Du musst Englisch und Französisch lernen, das reicht!

Kulturell blieb er Europa treu. Er und meine Stiefmutter haben Mozart und Beethoven zu Hause gehört, Tango hat mein Vater „Indianermusik“ genannt. Da hab ich natürlich nur noch diese Musik hören wollen. Er fand Hollywoodfilme, die ich so sehr liebte, unkultiviert. Lieber ging er mit mir ins klassische Konzert, ins Mozarteum, das empfand ich als Tortur.

Wenn ich in Argentinien eine Kirche oder ein Gebäude vom Ende des 19. Jahrhundert sah und sagte: Schau mal, Papa, was für ein altes Gebäude!, da lachte er. Und sagte: Ja, 100 Jahre alt. Das fand er sehr komisch. Diese Hochnäsigkeit gegenüber der Kultur blieb bestehen. In der Pubertät hat es mich furchtbar aufgeregt, wenn er von den kulturlosen Indios gesprochen hat, den indigenen Völkern im Norden und Süden. Das fand ich reaktionär und führte zu großen Familienstreiten. Ich fand Tango und Literatur spannend, habe nur Borges und Cortaza gelesen und mich gar nicht mehr für europäische Schriftsteller interessiert, insbesondere nicht die deutschen, die bei meinem Vater im Bücherschrank standen: die Gebrüder Mann, Heinrich Heine, Kurt Tucholsky.

Wenn ich konnte, bin ich in die Kinos unserer Gegend gegangen, in Martínez gab es damals das „Bristol“ und das „Astro“. Ich habe mir drei Filme hintereinander angesehen, alle Streifen mit Esther Williams oder mit Ginger Rogers und Fred Astaire, bloß keine Kunst, nur Schmarrn. In der Innenstadt gab es das „Cine Opera“, dahin hat mich meine Tante mitgenommen. Das Opera war in der Avenida Corrientes, ein Kino mit Sternchen an der Decke und einem Plüschvorhang, es gab Balkone, Ränge. Und danach gingen wir zusammen in die Confiteria Ideal, ein altes Café, es gab Tee, Kuchen und Sandwiches de miga. Das war weißes, dünnes Brot, ohne die Kruste und mit Käse und Schinken belegt. Für solche Schweinereien hätte ich sterben können.

In der Schule haben wir damals auch über Hitler gesprochen, aber nie habe ich dabei an meine Familie gedacht. Meine Kindheit war so schon kompliziert genug. Ich habe vieles ausgeblendet und war zu sehr mit der Spannung beschäftigt, die es nach der Trennung meiner Eltern in unseren Häusern gab.

Jahre später habe ich erst recherchiert. Und dann habe ich die Geschichten hinter einigen Bekannten erfahren. In Mónicas Haus verkehrte die Tochter eines Mannes, der die rechte Hand von Perón in Fragen der Einwanderung war. Er versuchte, Juden nicht ins Land zu lassen. Dann gab es einen anderen, der hieß Freude, und der half, deutsche Nazis einzuschleusen. Die Kinder dieser Männer habe ich kennengelernt, ohne dass ich wusste, was ihre Eltern getan hatten.

Von dieser seltsamen Geschichte handelt der Film: Plötzlich leben deutsche Nazis und deutsche Juden nebeneinander in Buenos Aires. Russische und polnische Juden lebten im Once, das war eigentlich das klassische jüdische Viertel der ärmeren Einwanderer. Die Wohlhabenden zogen nach Vicente López oder Belgrano – und dort gab es besonders viele Deutsche.

Die deutsche Pestalozzi-Schule steht bis heute in dem Viertel. Man sprach Spanisch, teilweise mit starkem Akzent und deutschen Endungen, das nannte man das Belgrano-Deutsch. Auch im Süden des Landes, in Bariloche, lebten Juden und Nazis jahrelang nebeneinander. In Córdoba war ich einmal in einem jüdischen Ferienlager – und nebenan zelteten die Kinder der Nazis. Darüber habe ich mir als Teenager überhaupt keine Gedanken gemacht.

Als meine Eltern 1961 von der Verschleppung Eichmanns hörten, waren sie empört. Wie konnte der in Argentinien leben!, regten sie sich auf. Im selben Jahr reiste ich zum ersten Mal mit meinem Vater nach Europa und Israel. Einen Tag fuhren wir von der Schweiz nach Deutschland hinüber, nach Untergrombach, woher die ganze Familie meines Vaters stammte. Wir gingen auf den Friedhof, auf dem meine Ahnen lagen – und da waren Hakenkreuze und Ratten auf den Gräbern. Auf der Stelle hat mein Vater entschieden: Raus aus diesem Land, ich will nichts mehr damit zu tun haben.

Er wollte natürlich nicht, dass ich nach Deutschland ging. Doch ich hörte von der Hochschule für Gestaltung in Ulm, an die ein Institut für Film angeschlossen war. Das war ein einmaliges Konzept, was mich reizte, und ich bewarb mich für ein Stipendium.

Als mein Vater davon erfuhr, hat er alles versucht, damit ich in Buenos Aires bleibe. Ich hatte gerade mein Journalismus-Studium abgeschlossen, und er bot mir eine Wohnung in der Stadt an, das war zu Beginn der 60er Jahre in Argentinien unüblich für ein junges Mädchen. Außerdem hat er mir einen Job als Redakteurin bei der damals wichtigsten Zeitschrift in Argentinien vermittelt, „Primera Plana“, weil er den Chefredakteur kannte. Es war zu spät. Alles war vorbereitet, ich hatte das Stipendium – und ich wollte endlich mein eigenes Leben. Mit 21 ging ich 1964 in das Land meiner Väter. Bis heute lebe ich teilweise in Deutschland – in Berlin, wenn ich nicht in Buenos Aires bin.

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