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Speed dating. Yang Ge im "Decamerone" am DT.

© Riedl/dpa

Kirill Serebrennikovs Regie am Deutschen Theater: Fitness, Sex und Höllenqualm

Per Skype aus Moskau hat Kirill Serebrennikov sein "Decamerone" inszeniert.

Sie verbeugen sich in T-Shirts mit dem Aufruf „Free Kirill“. Der Regisseur ist nicht da, er kann die durchaus gemischten Reaktionen nach der reichlich dreieinhalbstündigen Premierenvorstellung im Deutschen Theater nicht entgegennehmen. Kirill Serebrennikov wird von den russischen Behörden drangsaliert und sitzt in Moskau fest. Deshalb lief der künstlerische Prozess ein wenig anders: Die Berliner Theaterleute sind zu ihm gereist, ins Gogol-Center, und bei den Endproben in Berlin war Serebrennikov über Skype dabei. Und man sieht: Die Technik funktioniert auch bei einer aufwendigen, ja überladenen Produktion. Es wirkt sogar ein wenig so, als wollte sich diese neue Fernbeziehung erst recht beweisen.

Bei Serebrennikovs „Decamerone“-Paraphrase stellt sich nun eine ganze Reihe grundsätzlicher Fragen – ausgehend von Putins Unrechtssystem, in dem schwule Künstler mit Verfolgung und Schikane rechnen müssen. Serebrennikov hat keine andere Wahl. Hingegen verzichten die Choreografen Jérome Bel und Tino Sehgal seit Längerem freiwillig auf Flugreisen, eine ökologische Gewissensentscheidung. Sie nehmen die Bahn oder, wenn das nicht möglich ist, kommunizieren in der Probenarbeit über Computer.

Das Virus schleicht sich auch hier ein

Noch einmal anders stellt sich die Lage nach dem weltweiten Ausbruch des Coronavirus dar. Was, wenn Städte und ganze Landstriche abgeriegelt werden, wenn Theater und Opernhäuser geschlossen bleiben? Darum drehen sich die Quarantäne-Geschichten aus Boccaccios „Decamerone“- Sammlung. Die Pest in Italien, im 14. Jahrhundert. Flucht aufs Land. Reiche Menschen ziehen sich zurück, vertreiben sich die Zeit mit wilden Storys und Ausschweifungen. Endzeitstimmung. Pier Paolo Pasolini hat Anfang der Siebziger neun Episoden aus diesem Riesenschatz in einem Film verwoben; auf der Berlinale bekam er dafür einen Silbernen Bären. Muntere Versteckspiele: Eheleute binden einander einen Bären auf, um sich mit Liebhabern zu amüsieren. Keine Lust ohne List, kein Betrug ohne Zitterpartie. Bei Serebrennikov sind es zehn ausgewählte Geschichten, kaum zu erkennen, nicht immer voneinander zu unterscheiden und auch noch verteilt auf die vier Jahreszeiten, deutsch-englisch-russisch.

Neue Texte nach Boccaccio

Serebrennikov hat völlig neue Texte geschrieben, wild zusammengeworfen nach Boccaccio-Motiven. Er hat auch die Bühne entworfen – ein Fitness-Studio, mit Sprossenwänden, großen Bällen, Gurten, Matten und anderem Foltergerät zur Selbstoptimierung. Eine Handvoll älterer Damen biegt und streckt sich unter Anleitung von Almut Zilcher – die ihren Sinnen, Muskeln und Sehnen auch nicht mehr so richtig trauen kann. Der Traum von Jugend und Sex lebt auf der Turnmatte und in digitalen Turnstunden. Man kann sich aussuchen, ob das lustig, peinlich oder anrührend ist. Und warum im Fitness-Laden? Ist das die Sartre’sche Hölle nach dem Tod, die geschlossenen Türen der Post-Sowjetunion? Kann sein.

Serebrennikov fügt Albtraum an Träumerei, Glanznummer an Lachnummer, lange Monologe an Fickszenen mit knalligem Licht und Techno-Musik. Er reiht melodramatische Auftritte – wie Georgette Dees Erzählung vom geilen Wolf und seinen willigen Opfern – an Sadomaso-Chats. Ist Social Media die wahre Seuche?

Kann auch sein. Wie zu allen Zeiten werden die Menschen von Geldgier, Geschlecht und verbohrten Ehrbegriffen gesteuert. Ohne das Thema der Macht direkt anzusprechen, skizziert Serebrennikov eine Gesellschaft brutal vereinzelter Materialisten. Liebe ist der Tod, Liebe ist eine Plage, ist Mittel zum Zweck – eine andere Message schaut sich aus dem flackernden Durcheinander nicht heraus. Dazu spielt eine ausgezeichnete Band – Daniel Freitag, Isabelle Klemt, Maria Schneider – auf einem Dutzend Instrumenten Tanzbares, Unheimliches, Schlagerschmalz, was das Herz begehrt. Wie Regine Zimmermann sinngemäß sagt: Das Ohr liebt mit.

Großer Abend für Regine Zimmermann

Der Abend gehört dieser Schauspielerin. Elegant und zerbrechlich, aber auch wieder resolut und durchtrieben verfolgt sie ihr Ziel. ganz kühl und ruhig plant sie die kompliziertesten Finten, um an einen jungen Mann heranzukommen – ob der Gatte nun im Zimmer ist oder nicht. Das Wunderbare ihrer Rollen liegt in der Leichtigkeit, mit der Regine Zimmermann sich durch das Chaos von Business-Talk und Fitness-Gewese navigiert: wild entschlossen, auf ihre Kosten zu kommen. Das hat auch eine feine Komik.

In einer späten Episode – der Abend zieht sich hin – spielt sie die Tochter eines russischen Offiziers, eine junge Witwe, die sich in einen einfachen Soldaten verliebt, ihren Klavierstimmer. Der alte Knochen (Oleg Guschchin) treibt den zarten jungen Mann (Filipp Avdeev) in den Tod und bald auch sein Kind – das ist ein ganz eigenes und bewegendes Drama, das Regine Zimmermann spielt, einsam, versteinert am Klavier, schon nicht mehr auf dieser Welt.

Einmal also gibt sich Serebrennikov nicht zynisch, hört er seinen Figuren zu, statt sie durch Bilder und Zeiten zu hetzen – was allerdings einer Performerin wie Yang Ge sehr gefällt und gut bekommt. Sie ist präsent in allen Lebenslagen, ob tot oder lebendig. Das weiß man in dieser kruden Inszenierung nie so genau: Leben und lieben sie noch hier oder sind das lüsterne Hologramme aus dem Jenseits?

Rüdiger Schaper

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