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Ein Schädel in einer Vitrine

© Getty Images/Sean Gallup

Koloniales Erbe Deutschlands: Sind Opfer außerhalb Europas Opfer zweiter Klasse?

Die Verzögerungen bei den Entschädigungen an die Opferorganisationen der Herero und Nama zeigt: Die Regierung drückt sich um eine Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen und genozidalen Geschichte.

Ein Gastbeitrag von Jürgen Zimmerer

Stand:

Seit der Jahrtausendwende ringt Deutschland um den angemessenen Umgang mit seinem kolonialen Erbe, insbesondere mit dem international längst als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts anerkannten Genozid an den Herero und Nama. Deutschland zögerte lange mit der Anerkennung.

Erst nachdem es 2015/16 zu einem Eklat gekommen war, als der Bundestag den Osmanischen Genozid an den Armeniern anerkannte, und sich unter anderen vom türkischen Präsidenten Erdogan belehren lassen musste, dass das deutsche Parlament erst einmal die eigene genozidale Geschichte vollständig aufarbeiten sollte, begann die Bundesregierung mit der namibischen über eine offizielle Anerkennung, eine Entschuldigung und auch einen finanziellen Beitrag zum Wiederaufbau zu verhandeln.

Verletzung der UN-Konvention

Schon damals begleitet von Protesten der Opferverbände und Klageandrohungen, paraphierten die Unterhändler beider Regierungen 2021 eine Gemeinsame Erklärung. Diese stellte neben einer offiziellen Entschuldigung des Bundespräsidenten auch die Zahlung von 1,1 Milliarden Euro über einen Zeitraum von 30 Jahren in Aussicht.

Offiziell unterzeichnet ist diese Joint Declaration jedoch bis heute nicht, da sich die zentralen Opferorganisationen der Herero und Nama dagegen stellten. In Windhoek klagten sie sogar gegen die eigene Regierung, um eine Ratifizierung zu verhindern. Sie fühlten sich nicht angemessen an den Verhandlungen beteiligt. Dies stellt eine Verletzung der UN-Konvention zum Schutz indigener Minderheiten dar, die sowohl Deutschland wie Namibia unterzeichnet haben. Maßgebliche Stimmen aus der UNO bestätigten diese Ansicht.

Hinter verschlossenen Türen wurde seitdem zwar erneut verhandelt, aber genauso intransparent und mit beschränktem Teilnehmer*innenkreis. Deutschland hat offenbar nachgebessert, wie aus einer Bekanntmachung der namibischen Vizepräsidentin Dr. Netumbo Nandi-Ndaitwah vom 27.6.2024 hervorgeht. Sie hatte in einer Rede erklärt, dass Deutschland bereit sei, die 2021 ausgehandelte Summe von 1,1 Milliarden Euro zu erhöhen, allerdings ohne einen konkreten Betrag zu nennen. Statt auf 30 Jahre sollte nun ein – nicht spezifizierter Teil – vorab gezahlt werden.

Auch in der Diaspora lebende Herero und Nama sollten davon profitieren können, aber im Grunde nur, wenn sie nach Namibia zurückkehrten. Ihre Nichtberücksichtigung war immer wieder kritisiert worden. Die versprochene deutsche Zahlung werde nun auch nicht mehr als „Hilfe“ oder „Zuschuss“ bezeichnet, was in der Erklärung von 2021 für großen Ärger gesorgt hatte, sondern als Beitrag zur „Sühne“ bzw. als „Sühnefond“. Und zu guter Letzt: Deutschland gibt die Einschränkung in der Erklärung auf, es habe sich um einen Genozid „nach heutigem Verständnis“ gehandelt. Dies wurde interpretiert, dass die deutsche Kriegsführung 1904 legal und eben kein Rechtsbruch gewesen sei, sich daraus auch keine Rechtspflichten, etwa zur Wiedergutmachung ergäben.

Hinter verschlossenen Türen

Das Vorgehen, wie auch die Ergebnisse, werfen jedoch weiterhin Fragen auf: Warum wird keine konkrete Summe genannt, um die nun erhöht werden sollte? Und warum werden nicht alle Fakten auf den Tisch gelegt, auch nicht von deutscher Seite? Wieso wird die Diaspora nur eingebunden, wenn sie nach Namibia zurückkehrt? Ist das nicht das Gegenteil von Einbindung?

Und warum wurde und wird dies wieder nur intransparent, hinter verschlossenen Türen, ausgehandelt, statt die Zivilgesellschaft in beiden Ländern endlich umfassend zu beteiligen? Die Bundesregierung bestätigte bisher nur, dass es mehrere Treffen zur Klärung von „Auslegungsfragen“ gegeben habe, zuletzt im April in Swakopmund. Niedriger kann man Verhandlungen kaum einstufen.

All dies wirft Zweifel an der Ernsthaftigkeit deutscher Bemühungen um Aufarbeitung und Aussöhnung auf, was koloniale Verbrechen angeht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die deutsche Regierung entledige sich nur einer lästigen Pflicht, ohne sich wirklich um eine Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen und genozidalen Geschichte zu bemühen oder diese auch in der deutschen Öffentlichkeit aufzuarbeiten. Nichts hätte den Bundestag davon abgehalten, den Genozid an den Herero und Nama anzuerkennen, nichts könnte den Bundespräsidenten davon abbringen, eine Entschuldigung auszusprechen.

Offenbar opfert man den Willen zur Aufarbeitung einer deutschen Staatsräson, nichts zu unternehmen, was als Anerkennung einer Wiedergutmachungspflicht angesehen werden könnte. Es ist eine andere Staatsräson als die Israel betreffende, und doch sind beide verbunden. Deutlich machte dies der deutsche Verhandlungsleiter Rupprecht Polenz, als er 2016 die Forderung zurückwies nach Wiedergutmachungszahlungen, die unter Verweis auf entsprechende Zahlungen für den Holocaust gestellt wurden.  

Er belehrte die Vertreter der Nama in der deutschen Botschaft in Windhoek, sie dürften das Leid ihrer (Ur-)Großeltern nicht auf eine Stufe stellen mit dem von Jüdinnen und Juden, denn deren Leid sei singulär. Nun gibt es gute Gründe, eine Singularität des Holocaust herauszustellen. Doch Opfer anderer deutscher Verbrechen und deren Forderungen nach Wiedergutmachungszahlungen dadurch abzubügeln – das ist geschmacklos und eine unzulässige Instrumentalisierung.

Zwei-Klassen-Hierarchie

Sie passt zu einer weiteren Abwertung kolonialer Opfer. So zementierte ausgerechnet die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth, eine Zwei-Klassen-Hierarchie von Opfern deutscher Staatsgewalt. Sie hatte im Frühjahr ein Rahmenkonzept zur Erinnerungskultur vorgelegt, um das schon von 2008 stammende Gedenkstättenkonzept zu aktualisieren. Die bisher aus zwei Säulen bestehende offizielle Gedenklandschaft, die auf NS-Verbrechen und DDR-Diktatur konzentriert waren, soll um drei weitere ergänzen: Kolonialismus, Migrations- und Demokratiegeschichte. Ein wichtiger, längst überfälliger Schritt!

Schnell formierte sich die Abwehr der bisher Etablierten. Sogar von einer Relativierung des Holocaust war die Rede, ohne auszuführen, wieso zwar das Gedenken an den Genozid an den Herero und Nama, nicht aber das Gedenken an das DDR-Unrecht, den Holocaust relativiere. Ersteres war immerhin genozidale Gewalt, mit Zehntausenden von Todesopfern, letzteres hat noch niemand so bezeichnet.

So entstand der Eindruck, es gehe vor allem um das Verdrängen möglicher Konkurrenten wegen immer knapperer Ressourcen. Dieser fatale, der deutschen Erinnerungskultur schweren Schaden zufügende Eindruck hätte leicht vermieden werden können, indem die Politik die Etats der bisherigen Gedenkstätten garantiert. Und wenn sie deutlich gemacht hätte, dass jede Erweiterung nicht zulasten der etablierten Institutionen gehen würde.

Roths ‚Krisenmanagement‘ machte alles nur noch schlimmer. Statt alle Beteiligten endlich an einen Tisch zu bringen zu einem Gespräch über ein modernisiertes Erinnerungskonzept, lud Roth nur die Vertreter*innen der etablierten Gedenkstätten zur Diskussion. Das Ergebnis war kaum überraschend: Die Reform wurde komplett kassiert. Es wurde festgehalten, die Gedenkstättenkonzeption des Bundes mit den Themen Aufarbeitung der NS-Verbrechen und des SED-Unrechts „fortzuschreiben.“

Zwar fügte man, wie in solchen Fällen üblich, Lippenbekenntnisse darüber ein, Kolonialismus und „andere wichtige Themen“ separat weiterdiskutieren zu wollen. Aber deutlich wurde: Zur offiziellen Gedenkkultur, zur damit verbundenen deutschen Identitätspolitik, gehörten nur das Gedenken an NS und DDR, nicht aber die kolonialen Verbrechen. Den einen gebührt ein Platz im Zentrum der deutschen Gedenkkultur, die anderen bleiben außen vor. Klarer kann man eine Verbrechens- und Opferhierarchie nicht benennen.

Dies relativiert den Völkermord an den Herero und Nama, setzt er doch die Opfer von Völkermord hinter die Opfer der DDR-Diktatur zurück. Deutsche Opfer außerhalb Europas, sind offenbar nur Opfer zweiter Klasse. Dass ausgerechnet eine Ministerin von Bündnis 90/Die Grünen Opfer de facto nach Hautfarbe hierarchisiert, hätte sich zu Beginn der Legislatur auch die Wenigsten träumen lassen.

Es ist das Gegenteil der Aufarbeitung des kolonialen Erbes, die sich gerade die Grünen in der Ampel auf die Fahnen geschrieben hatten. Aber schließlich setzen ja auch die Grünen im Außenministerium beim Umgang mit den Herero und Nama keine neuen Akzente. Insofern marschieren Annalena Baerbock und Claudia Roth hier durchaus im Gleichschritt.

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