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Annemarie Heinrich, Bicicletas. Mar del Plata, 1970

© Annemarie Heinrich

Kunst der harten Kontraste: Annemarie Heinrich porträtierte Kinogöttinnen und Arbeiterinnen

Mit einer großen Retrospektive kehrt Argentiniens wichtigste Fotografin in ihre Heimatstadt Berlin zurück.

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Ein makelloser, schimmernder Teint, unendliche Wimpern, dramatisches Licht und Schatten: Annemarie Heinrich war eine Meisterin der Illusion. In den 1930ern bestimmte die 1912 in Darmstadt geborene Fotografin für gut 40 Jahre, wie ein Star in Argentiniens boomender Film- und Showbranche auszusehen hatte. Die Titelblätter der Illustrierten trugen nicht nur ihre künstlerische Handschrift, Annemarie Heinrich signierte ihre Titelfotos, die mit ihrem „Autogramm“ gedruckt wurden. Ein Star unter den Stars.

Drei Strahler aus aufgeschnittenen Benzinfässern im Wohnzimmer, unter ihrem Licht die Nachbarn aus dem Villa Ballester, einem bei deutschen Immigranten beliebten Vorort von Buenos Aires. Der Start war für Annemarie Heinrich alles andere als glamourös. Nachdem der Beginn in dem neuen Land für ihre Familie aus Berlin emigrierte Familie gründlich schiefgelaufen war, wurde für Annemaries Berufswahl wohl entscheidend, dass ihr Vater einen Fotoapparat aus Deutschland mitgebracht hatte.

Die Schauspielerin Tilda Thamar in der Fotoserie „Sombreros“, 1943.

© Annemarie Heinrich

Den Fotoapparat professionell zu gebrauchen, lernte sie zunächst putzend und assistierend in den deutschsprachigen Fotoateliers von Buenos Aires. Zu Hause in Berlin hatte Annemarie noch davon geträumt, Tänzerin zu werden. Als ihr Vater 1926 aus politischen und wirtschaftlichen Gründen entschied, Deutschland zu verlassen, stritt die 14-Jährige gerade mit ihm über diesen Herzenswunsch. „Bloß keine Dirne!“, lautete sein Urteil und letztes Wort.

In Buenos Aires fand Annemarie Heinrich einen Weg, ihre zerstörten Bühnenträume zu kompensieren. Ihr erstes Studio richtete sie direkt hinter dem berühmten Teatro Colón ein. Bald fotografierte sie nicht nur die nationalen Musiker, Schauspieler, Künstler und Intellektuellen, sondern internationale Stars und Compagniena auf der Durchreise. Sie war talentiert und günstig.

Porträts des Geigers Yehudi Menuhin oder Opernsängerin und Menschenrechtsaktivistin Marian Anderson erschienen bald weltweit, Fotos für das American Ballet Theatre neben denen Cecil Beatons oder Richard Avedons in einer Publikation. In ihren Bildern zum Thema Tanz verband sich Annemarie Heinrichs technischer Perfektionismus mit ihrer großen Experimentierfreude, die sie sonst eher auslebte, nachdem die offiziellen Aufträge erledigt waren.

Annemarie Heinrich experimentierte gerne mit Doppelbelichtungen, Solarisation und Verzerrungseffekten, wie hier in einem Selbstporträt von ca. 1945.

© Annemarie Heinrich

In der Retrospektive „Annemarie Heinrich. Fotografien zwischen Deutschland und Argentinien 1933 -1987“ im Willy-Brandt-Haus, die die Kuratoren Lutz Matschke und Renata Jonic wunderbar aus den Beständen einer Ausstellung kuratiert haben, die Annemarie Heinrich 2004, ein Jahr vor ihrem Tod, noch selbst zusammengestellt hatte, lassen sich nun auch ihre großartigen Architektur- und Landschaftsaufnahmen entdecken.

Annemarie Heinrich hob die Fotografie in Argentinien auf ein neues Niveau

Sie entstanden nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der nächsten Welle deutscher Immigranten wie mit Grete Stern, die die Theorien des Bauhauses mitbrachten und in dem von ihr begründeten Fotografenzirkel „Carpeta de los diez“. Mit zehn Kollegen, die einander herausforderten und kritisierten, um dem Akademismus in den Fotoclubs zu entkommen, hob sie die Fotokunst in Argentinien auf ein neues Niveau.

Bemerkenswert für eine Frau, in einem Land, das von Katholizismus und Machismo geprägt war. Dass Annemarie Heinrich und später alle Mitarbeiterinnen ihres stetig wachsenden Studios Hosen trugen, mag praktische Gründe gehabt haben. Der protofeministische Außenwirkung dürfte sie sich aber ebenfalls bewusst gewesen sein.

Für den heutigen Betrachter sind Annemarie Heinrich freie Bilder die stärksten. Besonders beeindruckend: die Sensibilität und Sinnlichkeit in der umfangreichen Werkgruppe weiblicher Aktaufnahmen. Und wer weiß, was sich zu einer anderen Zeit aus ihrem Interesse an männlicher oder beinahe queerer Sinnlichkeit, wie in den Aufnahmen des Tänzers Serge Lifar in „Le Spectre de la Rose“, noch hätte entwickeln können.

Annemarie Heinrich, Akt XXI, Tilda Thamar, 1946, 20x25 cm

© Annemarie Heinrich

Für die argentinische Gesellschaft war ihre sinnlich Kunst noch 1991 zu viel. Als Annemarie Heinrich ein Aktbild der Schauspielerin Tilda Thamar von 1946 in ihr Schaufenster stellte, schloss die Polizei nach Beschwerden ihr Atelier. Dieser Fall von Zensur schlug wellen und bald war das Bild ironischerweise in allen Zeitungen zu sehen. Argentinien war nach dem Ende der Militärdiktatur in Aufbruchsstimmung und brauchte mutige Künstlerinnen und erfolgreiche Vorbilder.

In ihren Fotografien zeigte sich ihre sozialistische Einstellung nicht

In den 1950er Jahren besuchte Annemarie Heinrich zweimal Deutschland – um sich technisch fortzubilden, aber wohl auch, um sich international zu messen. Sie besuchte auch Berlin und war vor allem beeindruckt von den Entwicklungen im Ostsektor der Stadt. Ihre sozialistische Einstellung hatte sie von ihrem Vater geerbt. Heikel in Argentinien, wo die deutsche Community erbitterte Auseinandersetzungen über das Nazi-Regime in Deutschland geführt hatte.

Der Politik entzog sich Heinrich in ihrer Arbeit. Der späteren First Lady Eva Péron, die Annemarie Heinrich als junge Schauspielerin im Bikini und kurzen Kleidern abgelichtet hatte, antwortete sie auf die Anfrage für ein Porträt des Präsidenten: „Wenn Péron ein Porträt will, soll er in mein Atelier kommen.“ Er kam natürlich nicht.

Wenn Péron ein Porträt will, soll er in mein Atelier kommen.

Annemarie Heinrich

Über Jahrzehnte erlebte Annemarie Heinrich aber auch den kontinuierlichen Abstieg Argentiniens von einem der reichsten Ländern – nicht nur in Südamerika – zu einem von Korruption und Hunger gebeuteltem Land.

Hygienemaßnahmen im Schlachthof Puerto Deseado, 1958 aus Fotoserie „Arbeitende Frauen“.

© Annemarie Heinrich

Für die Berliner Ausstellung haben die Kuratoren, nicht zuletzt als Referenz an den Ausstellungsort in der Parteizentrale der SPD, die beeindruckenden Arbeiten der Mappe „Arbeitende Frauen“ integriert. Annemarie Heinrich war sehr stolz auf diese durchaus politische Arbeit, die aber bisher nie ausgestellt wurde.

Es war Annemarie Heinrichs großer Wunsch, dass ihr Werk in seiner vollen Breite einmal in ihrer Heimatstadt zu sehen sein würde, auch, wenn sie dabei vielleicht eher an die Stadt ihrer Kindheit dachte. Ihre hier ausgestellten Werke sind ein Fest für die Augen und der Beginn einer Neuentdeckung und Neubewertung, die international bereits vor Jahren begonnen hat. Ingolf Patz

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