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Kunst in Dänemark: Das Märchen von der neuen Stadt
Die Biennale „Socle du Monde“ in Herning und das Andersen Hus in Odense erproben kreative Wege der urbanen Weiterentwicklung.
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Corona ist auch an den dänischen Museen nicht spurlos vorübergegangen. Mitte Dezember mussten sie schließen, erst im Mai durften sie wieder öffnen. Holger Reenberg, Direktor des Herning Museum of Contemporary Art mitten in Jütland, spricht von einem Ausfall von 60 bis 80 Prozent durch unverkauft gebliebene Tickets. Für ihn wurde die Pandemie besonders schmerzlich spürbar.
Denn eigentlich hätte die Herninger Biennale „Socle du Monde“ im vergangenen Jahr starten sollen; nun findet sie endlich in diesem Sommer statt nach zwei abermaligen Verschiebungen im Herbst 2020 und Frühjahr 2021.
Ihr Name „Welcome back my friends to the show that never ends“, so auch der Titel einer Platte von Emerson, Lake & Palmer, erhält eine ganz andere Dringlichkeit. Mit der niemals endenden Show sind nicht nur Kunst und Ausstellungen gemeint, sie ist das Leben schlechthin. Für viele bedeuteten die letzten Monate einen Kampf ums Ganze, die Existenz.
Man habe staatliche Unterstützung erhalten, schränkt Holger Reenberg zwar das Dramatische der Situation für sein Museum ein. Aber dass ihm mulmig ist, wird spürbar beim gemeinsamen Rundgang durch sein Haus, in dem die Eröffnungskapitel der Biennale zu sehen sind, die in die gesamte Stadt ausgreifen: auf die Hochschule, die St. Johannis Kirche, den Skovsnogen-Wald und den Stadtraum.
Die Besucher:innen müssen einfach kommen in diesem Sommer, darauf setzt Reenberg – vor allem aus Deutschland. Die Chancen stehen gut, denn Dänemark ist aus der Bundesrepublik ohne Flugzeug zu erreichen, Quarantäneauflagen gibt es keine mehr.
Poetisch wie clever
Nur Herning, das eine Autostunde von Aarhus entfernt gelegene Städtchen, dürften zunächst die wenigsten Reisenden auf dem Plan gehabt haben. Dabei hat das einstige Zentrum der dänischen Textilindustrie in den letzten Jahrzehnten eine radikale Wandlung zum Hotspot der Kunst vollzogen.
Der Hemdenfabrikant Aage Damgaard sammelte in den 1960ern nicht nur leidenschaftlich Arte Povera und ließ seine Produktionsstätten künstlerisch gestalten, er lud außerdem Künstler wie Piero Manzoni zu mehrmonatigen Aufenthalten ein, die hier gegen Gehalt Großwerke schufen. Einzige Bedingung: Was in dieser Zeit entstand, sollte am Ort verbleiben.
Manzoni, legendär für seine „Merda d’artista“, hinterließ in Herning nicht nur seine längste Linie – 7200 Meter lang, aufgerollt und danach verpackt –, sondern auch den „Socle du Monde“. Der italienische Bildhauer erklärte einfach einen umgedrehten Sockel mit entsprechend kopfüber stehender Inschrift zum Podest für den gesamten Planeten und deklarierte damit die Welt zum Kunstwerk.
Das war ebenso poetisch wie clever gedacht von dem 1963 mit knapp dreißig verstorbenen Konzeptualisten und wurde 2002 zum Titel auch für die erste dänische Biennale, deren frühe Ausgaben allerdings noch eher regionale Bedeutung besaßen. Seit 2017 sucht sie mit Künstlern wie Tomás Saraceno, Rirkrit Tiravanija und Hermann de Vries international Anschluss.

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Das will auch die neueste Ausgabe. Mit dem ghanaischen Bildhauer El Anatsui und einem seiner typischen Wandbehänge aus wiederverwendeten Flaschenverschlüssen sowie dem Briten Antony Gormley, der einen ganzen Saal mit Tausenden Lehmfiguren füllte, hat die Biennale wieder Superstars dabei. Ansonsten versucht sie den Spagat zwischen regionaler und historischer Verpflichtung.
So wurden dänische Künstler:innen in einem open call eingeladen, für den nahe gelegenen Kunstwald weitere Objekte beizutragen. Und im Mutterhaus, dem aus der Firmensammlung hervorgegangenen öffentlichen Museum, ist eine Arte-povera-Ausstellung zu sehen, die von Kounellis bis Penone, Fabro bis Anselmo alle großen Namen der Kunstrichtung vorführt.
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Darunter befindet sich auch Michelangelo Pistolettos „Venus“ von 1973, die als Werbeplakat einen Shitstorm auslöste, wie Holger Reenberg mit gewisser Genugtuung berichtet. Das Aktbild von Pistolettos Pfeife rauchender Gattin wurde vorsorglich aus den öffentlichen Netzwerken und der städtischen Werbung verbannt, um Ärger zu vermeiden. Als das Museum als ironischen Kommentar auf seiner Fassade Brüste und Scham der modernen Venus mit dem Biennale-Logo überdeckte, wurde dies erneut als Zensur kritisiert. Wer wen hier bevormundete, in die Defensive drängte, geriet dabei vollkommen durcheinander.
Die Biennale hatte damit ihren vermutlich willkommenen Skandal. Dabei lohnt der Besuch auch ohne Aufregung, insbesondere des Textilmuseums, in dem zwischen Nähmaschinen, Webstühlen und Spinnrädern Exponate der Biennale zu entdecken sind. Das Museum erzählt die Geschichte von Herning als Textilstandort, an dem ein Unternehmer wie Damgaard sein Glück machte und durch seine Kunstpassion zugleich eine Perspektive für die postindustrielle Stadt eröffnete.
Odense durchläuft einen enormen Transformationsprozess
Genau diese Entwicklung macht Odense – 150 Kilometer entfernt auf Fünen, der Hauptinsel Dänemarks – gerade durch. Die drittgrößte Stadt des Landes will sich ebenfalls als Kulturmarke etablieren und zieht als ihren Joker Hans Christian Andersen, den großen Märchenerzähler. Schon vorher war der Sohn der Stadt, der sie allerdings schon als 14-Jähriger gen Kopenhagen verließ, für Touristen die größte Attraktion. Gleich beim Bahnhof werben Großplakate auf Englisch und Japanisch für ihn.
[www.socledumonde.org; www.hcandersenshus.dk. Die Reise wurde unterstützt durch beide Museen.]
Doch nun wird er zum Motor urbaner Umwandlung, städtischer Neuerfindung – als Belebungsmaßnahme für die zunehmend verödende City. Was tun, wenn sich nach dem sprunghaften Anstieg des Online-Handels durch Corona selbst die Ladenlokale leeren? Kultur, lautet auch hier die Antwort.
Odense durchläuft seit sieben Jahren einen enormen Transformationsprozess. Die mehrspurige Autostraße, die einst die Innenstadt durchschnitt, wurde unter die Erde verlegt. Nun entstehen Hotels, Wohnhäuser, wo der Verkehr zuvor die verwinkelten Sträßchen, heimeligen Nachbarschaften der Altstadt brutal in zwei Hälften teilte. Im Zentrum dieser Erneuerungskampagne sprießt das neue Hans-Christian-Andersen-Museum.
Und das ist wörtlich zu verstehen: Die kreisrunden Pavillons, ein Entwurf des japanischen Stararchitekten Kengo Kuma, von dem auch neue Olympiastadion in Tokio stammt, wachsen mitten in der Stadtlandschaft aus dem Boden empor. Sie bilden mit ihren begrünten, abgeschrägten Dächern zwischen lauschigen Hecken und Wiesenstücken einen öffentlichen Park, der tatsächlich märchenhaften Charakter bekommen könnte.

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Wenige Tage vor der Eröffnung, der offiziellen Einweihung durch Königin Margarethe II., werden noch Büsche gepflanzt, spielen Techniker:innen die Animationen per Probelauf durch, ragen Kabel aus den Wänden. Man muss zu diesem frühen Besuchszeitpunkt schon einige Fantasie mitbringen, um sich das fertige Museum vorzustellen. Wie so viele Bauprojekte geriet es aufgrund von Corona durch Lieferengpässe und Bauarbeiter, die nicht anreisen durften, in die Bredouille. So wird es am 30. Juni nur ein soft opening geben wie beim Humboldt Forum in Berlin; einzelne Teile eröffnen erst später.
Was noch fehlt, überspielt Henrik Lübker mit seinem sprudelndem Temperament. Der Kreativdirector des Andersen Hus hat ohnehin als Museumskonzept „blurring the boundaries“ ausgegeben, wie es Andersen in seinen Märchen vormacht. Nie ist klar, welche Realität gemeint ist. Da erklärt etwa die Erbse, wegen der die Prinzessin trotz aller Matratzen nicht schlafen kann, dass sie hier die Hauptfigur sei. Andersen selbst erwacht zum Leben: als Scherenschnittfigur, wie er so viele schuf zur Unterhaltung seiner Gastgeber auf den zahllosen Gütern, die er immer wieder besuchte.
Höhepunkt des Parcours ist ein kreisrunder Saal, der den Besucher:innen den Eindruck vermittelt, wie die kleine Meerjungfrau vom Boden des Ozeans in den Himmel zu blicken, wo wiederum Spaziergänger des Parks durch eine riesige Scheibe nach unten schauen können. Das Märchen endet tragisch, doch ist die kleine Meerjungfrau Dänemarks bekannteste Figur. Der Stadt Odense soll Andersen allerdings ein Happy-end bescheren.
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