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Blick in die aktuelle Ausstellung von Ryan Gander in der Galerie Esther Schipper.

© Andrea Rossetti © The artist / VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Ausstellung des Künstlers Ryan Gander: Hundert Jahre Langeweile

Ryan Gander spricht in seiner Ausstellung in der Galerie Esther Schipper über Ablenkung, Überreizung und den Autismus seines Sohnes. Und er präsentiert die schlimmste Version seiner selbst.

Stand:

Eine Landschaft aus kleinen Plastikspielsachen breitet sich im Galerieraum aus. Man sieht Figürchen, Türmchen und Tierchen in Reih und Glied stehen, eins hinter dem anderen in vertikalen Linien. Ruhe vermittelt diese Bodenarbeit nicht, dafür ist sie zu heterogen und zu bunt. Während man noch versucht diesem Rätsel aus Chaos und Ordnung auf die Spur zu kommen, kommt Ryan Gander um die Ecke und sagt, es gebe keine Logik im System.

Die Ausstellung, die der 1976 im englischen Chester geborene Künstler in der Galerie Esther Schipper eingerichtet hat, dreht sich um Reizüberflutung, Ablenkung und die Jagd nach immer stärkeren Reizen in Social-Media-Zeiten. Es sei die persönlichste Ausstellung, die er je gemacht hat, sagt Gander. Sein Gefühl dabei: ein bisschen cringe.

Porträt des Sohnes

Gander ist als international erfolgreicher Konzeptkünstler in allen Medien unterwegs. Mal macht er Skulpturen aus Stahl oder Marmor, dann eine animatronische Maus, die übers Leben philosophiert. Er gibt Lectures, schreibt Gedichte und kreierte Kunst mit verschiedenen Alter Egos. Bei Esther Schipper zeigt er nun konzeptuelle Porträts von sich und seinem Sohn Baxter, bei dem vor einigen Jahren Autismus diagnostiziert wurde. Es gehe nicht um ihn, sondern um universelle Themen, sagt Gander. Identitätspolitik ist ihm ein Graus, wohl auch weil andere das oft auf ihn als Mensch im Rollstuhl projizieren.

Die KI-gesteuerte Arbeit „Ryan Waiting“ zeigt einen digitalen Avatar des Künstlers, der sich in einer grauen, horizontlosen Fläche bewegt. An der Wand hängt ein mehrere Meter langes horizontales Bild, im Raster auf 1500 Postkarten gedruckt. Es ist ein Porträt seines Sohnes Baxter. „Weil Baxter ständig in Bewegung ist, konnte ich keine statische Skulptur von ihm entwerfen, wie ich es mit meinen Töchtern gemacht habe“, sagt Gander. Stattdessen macht er einen 20-Sekunden-Scan von dem Kind, verwandelte die Aufnahme in eine Marmorskulptur, druckte sie als Foto aus und zerlegte es in 1500 Teile. „Das kommt Baxter sehr nahe“, sagt Gander.

Spielsachen in Reih und Glied

Die Spielzeugarbeit am Boden ist ein Symbol für die Beziehung zwischen Vater und Sohn, die völlig unterschiedliche Wahrnehmungen haben. Ryan Gander, dessen Welterschließung über Sprache funktioniert und der nicht läuft, und Baxter, der keine Sprache benutzt, dafür aber sehr körperlich agiert. Baxter baue die Spielsachen zu Hause genauso auf, wie es hier in der Galerie gemacht worden sei, erzählt Gander. Er versuche nicht, Baxters Weltwahrnehmung zu verstehen, sondern sie einfach anzunehmen. Offenbar übt Gander das Loslassen. Einerseits verschenkt er seine nicht realisierten, künstlerischen Ideen per Automat ans Publikum, andererseits macht er sich in „Ryan Waiting“ im digitalen Raum unsterblich.

Die Galerie promotet die Ausstellung damit, dass Gander zum ersten Mal mit künstlicher Intelligenz und Virtual Reality-Technologie arbeitet. Dabei ist VR-Überwältigungskino ja gerade nicht, was er der Welt anbieten will. Die unbegrenzten Möglichkeiten der VR nutzt er in einer Art Reverse-Modus.

Was er für seine VR-Arbeit vor allem getan hat, ist lange stillzuhalten. Für „Ryan Waiting“, das in der Galerie als Mehrkanal-Videoinstallation und mit VR-Headset zu erleben ist, saß Gander viele Stunden lang tatenlos da – und machte nicht viel, außer schauen, blinzeln, sich im Raum bewegen, was man eben so macht, während man nichts macht.

100 Jahre Lebenszeit

Ganders Körperbewegungen wurde per Motion Capture gefilmt und ein 3D-Modell erstellt. Der Avatar des Künstlers wird ab Ausstellungseröffnung hundert Jahre lang in dieser Animation vor sich hinleben, ob jemand zuschaut oder nicht, seine Bewegungen und seine Laune verändern sich, gesteuert von einem Algorithmus der Daten zu Tageszeit, Klima und Ganders Relevanz im Kunstbetrieb verarbeitet. Er bleibt, wenn der echte Ryan Gander längst tot ist, sein virtuelles Vermächtnis.

Ein essenzieller Teil der Arbeit besteht aus rechtlichen Verträgen, die festlegen, wie das Ganze am Laufen gehalten werden soll. Es ist eine aufwändige und zugleich kontemplative Hommage an die Langeweile, an den ereignislosen Zustand, den es braucht, um neue Ideen zu generieren. Und natürlich ist es auch eine Erinnerung an das Ablaufen der Lebenszeit, und dass man sich gut überlegen sollte, wie man sie füllt.

Gander liefert seinen Zuschauern verschiedene Möglichkeiten, um auf eigene Ablenkungsstrategien und den Umgang mit Zeit zu schauen. Als Künstler ist er selbst Teil der Aufmerksamkeitsökonomie, will gesehen werden, giert nach Likes und Klicks und neuem Content bei Social Media.

Die Angst, dem zu erliegen, hat er in eine weitere Arbeit gepackt. Wieder ein Abbild seiner selbst. Es liegt in der Ecke und nennt sich „Little Stink“, eine animatronische Ryan-Gander-Marionette, die schlechte Version seiner selbst, die faul daliegt und Kunst aus eitlen Motiven macht. Es ist eine bewegende Ausstellung geworden, die auf subtile Art Persönliches verhandelt. Und nein, es ist nicht cringe.

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