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Kyjiw und Lwiw bedrohtes Welterbe: Ein weiterer Notfall-Beschluss
Die Unesco hat Kyjiw und Lwiw auf die Rote Liste des bedrohten Welterbes eingetragen.
Stand:
Im letzten April trug die Weltkulturorganisation Unesco erstmals in einer „Notfallentscheidung“ die ukrainische Stadt Odessa in die Welterbeliste ein – und gleich darauf auch in ihre „Rote Liste“, die vor der unmittelbaren Zerstörung warnt. Russland schoss trotzdem weiter Raketen und Bomben selbst in das engere Schutzgebiet der Altstadt, ihre Museen, Schulen, Bibliotheken und sogar auf die prachtvolle Kathedrale.
Unter anderem diese demonstrative Rücksichtslosigkeit dürfte nun die Welterbe-Kommission, die derzeit regulär in Riad tagt, dazu gebracht haben, zwei weitere ukrainische Welterbestätten auf die Rote Liste zu heben: die Sophienkathedrale und das Höhlenkloster in Kyjiw sowie die Altstadt von Lwiw.
Hochpolitisches Signal
Die Auswahl gerade dieser beiden Stätten – akut bedroht durch den russischen Angriff sind schließlich alle acht eingetragenen Anlagen mit etwa 25 Einzelbauten – ist ein hochpolitisches Signal an den Aggressor Russland: Die Unesco akzeptiert zunehmend die Selbstdefinition der Ukraine als von Russland nicht nur politisch, sondern auch historisch eigenständiger Nationalstaat.
Lwiw wurde über die Jahrhunderte geprägt, erst durch die Herrschaft polnisch-litauischer Könige, dann seit 1772 derjenigen der österreichischen Habsburger, nach 1918 wieder vom polnisch-ukrainischen Modernismus und seit 1945 von der sozialistischen Ukraine. Die Stadt gilt als das ukrainische Fenster nach Westen, ist Zentrum der Unierten oder Griechisch-Katholischen Kirche, in der östlich-orthodoxer Ritus und westlich-katholische Theologie zusammenkommen.
Die im 19. Jahrhundert durch die Habsburger etablierten demokratischen und rechtsstaatlichen Traditionen führten dazu, dass Lwiw schon seit der russischen Kaiserzeit ein Zentrum jener ukrainischen (Exil-)Nationalbewegungen war, die gerade das Neben- und Miteinander unterschiedlicher kultureller Traditionen und Identitäten als Teil moderner Ukrainität betonen.
Nicht weniger deutlich stehen die Kyjiver Sophienkathedrale – benannt nicht nach einer Heiligen, sondern wie ihre große Schwester, die Hagia Sophia im heutigen Istanbul, nach der „Göttlichen Weisheit“ – sowie das ehrwürdige Höhlenkloster aus ukrainischer Sicht für den Anspruch auf eine eigenständige Geschichte und Zukunft.
Projizierte Geschichtsbilder
Gegründet wurde die Kathedrale wohl um das Jahr 1011, als durch Größe, Bautechnik und prachtvolle künstlerische Ausstattung herausragendes Monument der Macht der Rus-Herrscher. Auf deren Reich aber berufen sich Russland wie Belarus und die Ukraine als historische Vorgänger, vergleichbar den konkurrierenden Geschichtsbildern, die lange nationalistische Historiker in Frankreich und Deutschland auf das Aachener Münster projizierten, heute noch Juden und Muslime auf den „Tempelberg“ oder „al haram asch-scharif“ in Jerusalem, Serben, Albaner, Ungarn und Türken auf das Amselfeld in Kosovo.

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In Kyjiw konkurriert dabei vor allem die aus verschiedenen Vorgängern 2018 hervorgegangene „Orthodoxe Kirche der Ukraine“, die inzwischen von den Patriarchaten in Konstantinopel / Istanbul, dem Patriarchat in Alexandria und den Orthodoxen Kirchen Griechenlands und Zyperns anerkannt ist, mit der „Ukrainisch-Orthodoxen Kirche“, die sich bis zum Sommer vergangenen Jahres als Teil des Moskauer Patriarchats der Russisch-Orthodoxen Kirche betrachtete. Sie hat allerdings immer weniger Gläubige und Priester hinter sich, auch infolge des 2014 von Russland begonnenen Kriegs gegen die Ukraine.
Die Staatengemeinschaft darf nicht wegsehen, wenn unser gemeinsames Menschheitserbe angegriffen wird. Die Ukraine versucht es nach Kräften zu schützen, aber solange Russland seine Attacken fortsetzt, ist das Welterbe in Gefahr.
Maria Böhmer, Präsidentin der Deutschen Unesco-Kommission.
Wie bedeutend die Kathedrale inzwischen als Symbol der Nation gesehen wird, zeigte sich im März 2022, als Geistliche aller Religionen und Konfessionen die Welt zu ihrem Schutz vor einem befürchteten russischen Angriff aufriefen. Der Angriff fand zwar nicht statt. Selbst in Moskau dürfte bewusst sein, dass die Zerstörung eines solchen Welterbes seiner Politik und der Stellung „seiner“ orthodoxen Kirchen irreparablen Schaden zufügen würde.
Dennoch muss angesichts der gesamten sonstigen Kriegsführung befürchtet werden, dass die Unesco, möglicherweise jetzt schon in Riad, bald weitere „Notfall“-Beschlüsse fassen muss, etwa, die ebenfalls immer wieder im russischen Beschussgebiet liegenden mittelalterlichen Kathedralen von Tschernihiv, die bronzezeitlichen Steingräber in der Region Saporischschja oder das Naturschutzgebiet Askania Nowa im weiteren Mündungsbereich jenes Dnipro, der nach dem durch Russlands Krieg verursachten Bruch des Krakhovka-Staudamms die Landschaft überflutete.
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