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Ewige Verdammnis. Illustration von Sandro Botticelli zum „Inferno“ von Dantes „Göttlicher Komödie“, zu sehen im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen Berlin.

© mauritius images / SuperStock / Fine Art Images

Literarische Ideengeschichte: Vorwärts in die Hölle

Der Komparatist Norbert Miller durchwandert Paradiese und ihre dämonischen Gegenwelten.

Von Paul Michael Lützeler

Norbert Miller, ein eigenständiger Komparatist in der Gruppe international bekannter Literaturwissenschaftler, begann seine wissenschaftliche Laufbahn Anfang der 1960er Jahre an der Technischen Universität Berlin als Assistent von Walter Höllerer. Der TU Berlin blieb er als Professor verbunden.

Miller kennt sich in der Dichtungs-, Musik- und Kunstgeschichte aus wie wenige Vertreter der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Das zeigen die Studien und Editionen zu Piranesi und Walpole, zu Goethe und Heyse, zu Jean Paul und Gérard de Nerval, zur Auffassung des Klassizismus, zum Roman des 18. Jahrhunderts und zur romantischen Musik in Europa.

Die „Künstlichen Paradiese“, eine meisterliche Studie von fast 900 Seiten, die nun kurz nach seinem 85. Geburtstag erscheint, besticht von Neuem durch Klarheit des Stils und den Verzicht auf Theoriejargon. In ihr verbinden sich intensive Einzelinterpretationen mit dem Nachzeichnen von Entwicklungslinien in den Künsten.

Horizontüberschreitungen zur älteren Literatur

Eindrucksvoll sind auch die Horizontüberschreitungen hin zur älteren Literatur von Vergil über Dante bis Shakespeare und zu nicht-europäischen Kulturen. Den Rahmen geben zwei Studien zu Charles Baudelaire ab, der mit seinen „Fleurs du Mal“ entschiedener als jeder andere europäische Lyriker in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Tor zur literarischen Moderne aufstieß.

Wie eng Reisen in den Fernen Osten mit erdichteten Träumen von irdischen Paradiesen, von Wunsch-Alternativen zur europäischen Gegenwart verbunden waren, zeigte sich erneut im Fall des jungen Baudelaire. Der hatte als 20-Jähriger sein Hin-nach-Calcutta-Erlebnis. Auf halbem Weg brach er den unglücklich verlaufenen Ausflug im heutigen Saint-Denis-de-la-Réunion ab. Wichtiger als Indien zu erreichen, war die Fahrt als solche. Der Zusammenstoß der Harmonieträume mit der Realität damaliger Schiffsreisen wühlte die Phantasie des jungen Autors auf wie ein tropischer Wirbelsturm den Indischen Ozean.

Idyllensehnsucht und Chaos-Erlebnis lagen nun in seiner entfesselten Phantasie miteinander im Widerstreit. Bilder der Hölle und der Seligkeit bestimmten die Amplituden seiner Dichtung. Die jüngeren Kollegen Verlaine, Rimbaud und Mallarmé folgten den emotionalen und poetischen Schwingungen einer entgrenzten Imagination.

Belohnte Tugend

Der Gegensatz zu den späten Aufklärern, für die das Erleben der Pariser Revolution von 1789 entscheidend war, ist nicht zu übersehen. Miller zeigt das in einer Studie zum Werk des ungewöhnlich produktiven Schriftstellers Nicolas Edme Restif de la Bretonne.

Restif distanzierte sich von den Briefromanen Richardsons aus der Empfindsamkeitsepoche. Deren moralische Devise von der belohnten Tugend erschien den Bürgern im England Georgs II. noch plausibel, den französischen Zeitgenossen Ludwig XVI. aber keineswegs.

Restif erfand für seine lange Romanfolge „Les Nuits de Paris“ einen erzählenden Beobachter, der nachts durch die Metropole streicht – unerkannt wie Harun al-Raschid in „Tausendundeine Nacht“. Ein Jahr vor dem Sturm auf die Bastille beginnen die „Pariser Nächte“ zu erscheinen, und fünf Jahre später hört ihre Publikation wieder auf – heute auch für Soziologen und Historiker eine Quelle.

Irreale Phantastik

Miller betont den geradezu realistisch zu nennenden Schreibstil in den Beobachtungen des Erzählers: vom Feuerwerk einer irrealen Phantastik wie bei Baudelaire deutet sich noch nichts an. Restif versteht sich als Geschichtsschreiber von Personen, denn alles zielt ab auf die Wahrheit des Dargestellten.

Dabei ist es ihm durchaus um die Vermittlung einer Gegenwelt zum Alltags-Paris zu tun. Als Nachtwanderer (aber keineswegs Nachtwandler) entdeckt Restifs Beobachter im vorrevolutionären Paris Laster und Unglück, Armut und Freudlosigkeit; im revolutionären Angst und Verzweiflung, Verfolgung und Massenwahn. Wenn die Wahrheit selbst als Monster erscheint, ist es aus mit den Träumen von einer idealen Gesellschaft.

Dass Deutschland nicht Frankreich und Paris nicht Flachsenfingen ist, zeigt Jean Paul im „Hesperus“, der im gleichen Jahr wie Restifs letzte Folge der Paris-Romane geschrieben wurde. Das laute Chaos der Revolution mit Königsmord und Selbstzerstörung dringt nur wie fernes Gewitterrollen an die Ohren der fürstlichen Würdenträger in ihrer kleinen deutschen Welt mit dem minutiösen Hof und dessen Mini-Intrigen.

Freitod aus Resignation

Da ist nichts zu reformieren oder zu revolutionieren, und Horion, der kosmopolitische Fürstenerzieher, wählt aus Resignation den Freitod. Doch gibt es Möglichkeiten einer bürgerlichen oder kleinadligen Flucht in idyllische Räume wie das Pfarrhaus oder das Landschloss. Und neben diesen Ansätzen zu einem irdischen Elysium öffnet sich durch Emanuel/Dahore, den alten indischen Philosophen, der Blick in ein himmlisches Paradies.

Er hat sich in eine Klause des locus amoenus Maienthal zurückgezogen, wo er todesbereit bald alles irdisch Beschwerliche gegen eine transzendente Glückseligkeit austauschen möchte. Dahores Jenseits-Visionen und seine zunächst nur eingebildeten Sterbephasen als Schritte ins zweite Leben – das zeigt Miller im Detail – werden aber von ironischen Kommentaren begleitet, so dass der Glaube an die Seelenwanderung als Vehikel menschlicher Unsterblichkeit im Roman selbst unterminiert wird.

Draufgängerischer und fantastischer ging es seit Ende der 1790er Jahre im frühromantischen England zu. Der junge Coleridge – inspiriert durch Gespräche mit seinem Freund Wordsworth – schrieb in einer genialen und produktiven Phase Fragmente lyrischer Balladen wie „Kubla Khan“, „The Ancient Mariner“ und „Christabel“.

Da mischen sich mit den Bildern des Palastes von Xanadu, dem Schiff der Untoten/Nichtlebenden und seinem abgeschossenen Albatross sowie mit dem Portrait der Christabel-Freundin-Feindin Geraldine extrem gegensätzliche Vorstellungen von irdischen Paradiesen und satanischen Antiwelten, von Schönheit und Verkommenheit, Liebe und Hass, Idylle und Terror.

Utopie und Apokalypse

In den weiteren Kapiteln über E.T.A. Hoffmann, Thomas De Quincey, Charles Nodier, Eduard Mörike, Edgar Allan Poe, Gérard de Nerval und Adalbert Stifter zeigt Miller in subtilen Analysen, wie unterschiedlich in europäischen Dichtungen des 19. Jahrhunderts die Varianten dieser Mischungen ausfallen: von Unterweltlichem und scheinbar Überirdischem, von sozialen Vsisionen und psychischen Ängsten, von utopischen Friedenszielen und apokalyptischen Erwartungen.

Dante konnte im Paradiso-Teil seiner „Commedia“ noch das Empyreum, die Wohnstatt Gottes und der Heiligen, wahrnehmen: einen Ort der absoluten Schönheit und des Ewigen Friedens. In der „Commedia“ ist Vergil der Führer durch Inferno und Purgatorio. Er verlässt Dante, sobald die Paradiso-Sphäre erreicht wird.

In den Paradies-Entwürfen der Moderne bleibt Vergil überall gegenwärtig, da sie ohne Elemente des Infernalischen oder Purgatorischen nicht auskommen. Miller ist in seinem neuen Buch eine Art Philologen-Vergil: der kundige Begleiter durch die Literatur der künstlichen Paradiese und ihrer dämonischen Gegenwelten.

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