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Kultur: Die Sanftmut des Tigers

Schreiben, um den Tod aufzuhalten: zum 200. Geburtstag des Dichters Adalbert Stifter

Oberplan, der kleine Ort im Böhmerwald, in dem Adalbert Stifter heute vor 200 Jahren geboren wurde, heißt heute Horní Planá. Er liegt in der Tschechischen Republik im Dreiländergebiet, dort, wo Österreich, Deutschland und die Tschechische Republik aneinander grenzen. Stifter konnte nicht genug bekommen, die Landschaft seiner Kindheit im strahlenden Glanz der Erinnerung zu beschreiben, ein Kindheitsparadies, in dem „Wonne und Entzücken gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang, und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich“.

Immer wieder hat er den großen Wald beschrieben „an der Mitternachtseite des Ländchens Österreich“, den Dreisesselberg, den Plöckenstein und den kleinen See zu seinen Füßen, dessen spiegelgleiches Wasser unbeweglich ruht. Ein „unheimlich Naturauge“ schien dem Erzähler im „Hochwald“ dieser stille See, das den Betrachter anblickt „tief schwarz – überragt von der Stirne und Braue der Felsen, gesäumt von der Wimper dunkler Tannen – drin das Wasser regungslos, wie eine versteinerte Träne“.

Jiri Grusa, der (tschechische) Präsident des Internationalen PEN-Clubs, nach 1990 Botschafter in Berlin und Wien, hat von der Angst der tschechoslowakischen Soldaten erzählt, die in der Zeit des Kalten Krieges in Horní Planá dienen mussten, wo sich die Grenzwache breit machte, „eine besonders humane Einheit der Volksarmee, die damit beauftragt war, jeden umzulegen, der das Glück im Lande verlassen wollte“. Für die tschechischen Soldaten war hier „das Ende der Welt, das mit dem des Verdauungstraktes verglichen wurde“. Wie durch ein Wunder aber hat sich in Horní Planá das Geburtshaus Adalbert Stifters erhalten, mit Tafeln, die in deutscher und (seit 1960 auch in) tschechischer Sprache auf ihn hinweisen.

Heute ist die von Grusa beschriebene Gegend durchzogen von grenzüberschreitenden Stifter- und Wanderwegen, auf denen zahllose Touristen die Spuren eines Dichters suchen, den sie nur vom Hörensagen kennen. Als Dichter des Böhmerwaldes wird Stifter auch im Jubiläumsjahr gefeiert, obwohl die literarische Moderne, in Widerspruch und Sympathie, seit langem an ihm Maß genommen hat. Von seinem Antipoden, dem Dramatiker Friedrich Hebbel, wurde Stifter als ein Dichter der Blumen und Käfer verspottet. Vom Verdacht der Idyllik und der Langeweile hat ihn erst Friedrich Nietzsche (1879) freigesprochen, der gerade den Roman „Der Nachsommer“ zur wiederholten Lektüre empfahl.

Hebbel aber versprach demjenigen „die Krone von Polen“, der beweisen könnte, dass er die drei Bände dieses Romans gelesen habe, „ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein“. Das war im September 1858. Im Oktober wandte sich Hebbel noch einmal gegen die „Genremalerei“ in der Dichtung und verurteilte„den stumpfen Realismus“, der die Warze ebenso wichtig nehme wie die Nase, auf der sie sitzt. Stifter schien ihm der Ahnherr einer ganzen Generation von Dichtern des Detailrealismus zu sein, in deren Werk „offenbar Adam und Eva als Leser“ vorausgesetzt sind, „weil nur diese mit den Dingen unbekannt sein können“, die von Stifter breit und weitläufig beschrieben werden.

Mit dem Blick des Kritikers hat Hebbel jene Eigenart von Stifters Stil entdeckt, die ihn zum Widerpart der zeitraffenden Moderne bis zum heutigen Tage macht: die Zeitdehnung, welche die Menschen in Landschaften einbettet, in denen sie so leben und wirken, dass der epische Gang des Erzählens eins zu sein scheint mit dem langsamen Gang der Evolution. Wenn der Tod über solche Menschen kommt, bricht er wie eine letzte Katastrophe ein in ihr Leben, das dem ehernen Gesetz des Werdens und Vergehens unabänderlich unterworfen ist. „Dann schien die Sonne wie alle Tage“, heißt es in der „Mappe meines Urgroßvaters“, „es wuchs das Getreide, das sie im Herbste angebaut hatten, die Bäche rannen durch die Täler hinaus – nur dass sie allein dahin war, wie der Verlust einer goldenen Mücke.“

Stifter hat in Erzählung und Roman die Zeit gedehnt, um dem Sog des Todes zu entkommen, dem er früh begegnet ist, im Unfalltod des Vaters, in der eigenen Pockenerkrankung, im frühen Tod der Frau, die er geliebt hat, ohne sich ihr mä nnlich und energisch zu offenbaren. Der Lebensangst wollte er mit einem bedachten, Schritt für Schritt kontrollierenden Stil entgehen und ist ihr doch in den Qualen der Todeskrankheit erlegen, durch den Schnitt in die Kehle, mit dem er sich das Leben zu nehmen versuchte. Seinen Stil hat Stifter in vielen Detailmühen ausgefeilt und sich gefreut, wenn eine gemütskranke Frau, wie Luise von Eichendorff, die Schwester des romantischen Dichters, bei der Lektüre seiner Texte innerlich ruhig geworden ist.

Stifters Erzählen hat einen eigentümlich stillenden Rhythmus, den Rhythmus der Natur und ihres „sanften“, das heißt immer und überall wirkenden Gesetzes. Schnellem Lesen erschließt sich dieses Werk nicht, Lesern, die sich auf seinen Rhythmus einlassen, schenkt es statt Handlung – Ruhe. „Die merkwürdige Kunst“ des Romans „Der Nachsommer“, meinte der Literaturkritiker Ulrich Greiner, bestehe darin, „alles, was sich zu einem Ereignis oder einer Handlung entwickeln könnte, in eine handlungs- und ereignislose Ruhe münden zu lassen.“ Es gibt genügend Zeugnisse dafür, wie kalkuliert und auf Therapie hin bedacht dieser Stil erarbeitet worden ist. In den spä ten Erzählungen und der homerischen Arbeit am „Witiko“ hat Stifter ihn manieristisch überformt. Im Alter versuchte er sich tastend, auf dem – nach Peter Rosei – dünnen logisch-sprachlichen Parkett zu bewegen, um nicht einzubrechen in das von ihm „als gesetzlos empfundene Unten“.

Die scheinbare Sanftmut von Stifters Menschen ist in unendlicher, oft ein ganzes Leben dauernder Mühe einem ungestümen Temperament abgerungen, jener vom Autor „tigerartig“ genannten Anlage, die ihm selbst nicht fremd gewesen ist. Um (poetische) Menschen zu schaffen und dem Herrgott ins Handwerk zu pfuschen, hat er zeitlebens auch an sich selbst gearbeitet, hat in den Spätfassungen seiner Erzählungen mit Leidenschaft das Wort „Leidenschaft“ getilgt, hat eine unglückliche, aber vielleicht doch sexuell erfüllte Ehe zu einem Heiligtum stilisiert, ist seiner einfachen Frau in vielen Briefen mit ehrfürchtigen Liebesschwüren lästig gefallen, wo sie doch nur auf ein wenig Haushaltsgeld gewartet hat.

„Bigotterie“ nannte Leopold Federmair in einer fulminanten Psychoanalyse diese Haltung, die aus Empfindlichkeit gegenüber sich selbst und aus Härte gegenüber anderen bestand. Den „sanftmütigen Obristen“ (in der „Mappe meines Urgroßvaters“) oder Stefan Murai (in „Brigitta“) oder den Freiherrn von Risach (im „Nachsommer“) mit dem Autor zu verwechseln, ist eine Gefahr der Stifterforschung von Anfang an. Sie glaubte, Stifter selbst in den oft allzu edlen Gestalten seines Werkes wiederzubegegnen oder – wie Arno Schmidt – im Gegenzug einen „sanften Unmenschen“ zu finden, ehe Arnold Stadler in der Beschreibung der Glücksutopie des „Nachsommer“ und Peter Becher in seiner Biografie gezeigt haben, wie sprachliche Modernität und biedermeierliche Lebensführung durchaus zusammenpassen.

Denn dass dieser Dichter modern war, seinen Zeitgenossen weit voraus im naturwissenschaftlichen Denken, im reflektierten Schreiben, im Entwurf von Menschen, deren Sittlichkeit auch einer fortgeschrittenen Technik gewachsen ist, steht außer Zweifel. „Wir arbeiten“, heißt es im „Nachsommer“, „an einem besondern Gewichte der Weltuhr, das den Alten noch ziemlich unbekannt war, an den Naturwissenschaften. Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn wir selber in großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen und wenn wir mit gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Nur das scheint mir sicher, andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr auch das, was dem Geiste und dem Körper des Menschen als letzter Grund innewohnt, beharren mag.“

Der Autor, Präsident der Alexander-Humboldt-Stiftung und Professor emeritus für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität München, ist Hauptherausgeber sämtlicher Werke von Adalbert Stifter und Clemens Brentano.

Wolfgang Frühwald

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