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Dresdner mit Heimaten in Berlin und Rom. Der 1962 geborene Dichter, Essayist und Übersetzer Durs Grünbein.

© imago/IPON

„Aus der Traum (Kartei)“ von Durs Grünbein: Lockruf ins Offene

Standortbestimmung: In Durs Grünbeins eindringlicher Aufsatzsammlung „Aus der Traum (Kartei)“ finden der Lyriker und der Essayist neu zusammen.

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Ausgeträumt haben heißt, sich der Realität zu stellen und eine neue Ordnung im eigenen Denken anzustreben. Die Kartei- und Zettelkästen von Niklas Luhmann oder Hans Blumenberg sind Systeme, die eine solche Übersicht ermöglichen und neue, wenn auch abermals nur vorläufige Gewissheiten versprechen. Insofern kann man alle 50 Texte von Durs Grünbeins Essayband „Aus der Traum“ als solche Karteikarten verstehen. Denn die hier versammelten Vor-, Nach- und Geleitworte, Reden, Zeitungsartikel und Kommentare, Begleittexte zu Ausstellungen, Gedichte oder Rezensionen dienen im Grunde einem einzigen Zweck: der Selbstverortung ihres Autors. Viele von ihnen betonen das Tastende.

Die meisten Texte aus dem ersten, schwerpunktmäßig dem (ästhetischen) Phänomen Traum gewidmeten Abschnitt verschränken Persönliches, zum Teil berührend Privates mit allgemeinen Weltbeobachtungen. In der Summe wachsen sie sich zu einer großen Poetologie aus.

Kaleidoskop der Dichterkollegen

Man merkt Grünbeins Reflexionen die intensive Beschäftigung mit der „Wahrheit“ des Traums und der Erkundung seiner Nähe zur Lyrik an. Denn in den Träumen, heißt es einmal, „ist jeder ein Dichter“, „hier wie da gleiten die Bilder, sie zerfließen“, ergeben kein eindeutiges Ganzes. Das Gleiten, das Nichteindeutige, eignet auch den abgedruckten Gedichten. So ist beispielsweise „Das Reservoir der Träume“ kein klassisches Gedicht mehr, sondern ein Essay, der grafisch ein Gedicht nur noch simuliert. Wir sollen dem seit Hölderlin vielfach wiederholten „Lockruf ins Offene“ folgen – die Form des Gedichts gibt es nicht mehr, seine Offenheit ist seine seine Undefinierbarkeit. Denn die Frage zu beantworten, was ein Gedicht sei, lässt einen schwindeln: zwischen lauter hilfsweise aufgestellten Definitionen.

Dass Grünbein der Verlust von Autonomie, und sei es nur im Traum, eine schmerzliche Vorstellung ist, lässt sich nachvollziehen an den autobiografischen Texten des zweiten Abschnitts zu seinem Leben in der DDR, zur Nachwendegeschichte und zur Demokratieverdrossenheit mancher Ostdeutschen. Hier war Autonomieverlust eine alltägliche Bedrohung und Erfahrung des „politischen Straftäters“, der „Geisel des Systems“, die sich als „Kanonenfutter des Kalten Krieges“ begreifen musste. Grünbein lehnt alle Romantisierung der DDR ab, bei ihm gibt es keine Ostalgie, sondern immer wieder nur verunsichertes Staunen über den „Aufbruch in die politische Kälte“.

Sind die ersten beiden Abschnitte des Bandes der ästhetischen und historischen Selbstverortung gewidmet, so stellt der dritte Abschnitt eine bunte und im besten Sinne kursorische Bilderfolge von Grünbeins literarischen Einflüssen dar. So unterschiedlich hier die Sujets, Genres oder Schreibanlässe sein mögen, so verbindend ist die über diesem Kaleidoskop der Dichterkollegen stehende Frage nach deren Standort. Neben manchem Bonmothaften, aphoristisch Zugespitzten oder schmissig Charakterisiertem erfährt man aber nicht nur etwas von Grünbeins Lektürebiografie, sondern auch allerlei über ihn selbst.

Ein Meister süffisant ironischer Verknappungen

Wie Elizabeth Bishop, die „hingerissen war vom Verlangen nach Übersicht“, hat auch Grünbein eine Vorliebe für Listen, Wörterbücher, Lexika, Glossare und Verzeichnisse jeder Art, lernt von Emily Dickinson, wie sprachliche Reduktion „ein Maximum an innerer und äußerer Raumerkundung“ entfalten kann, und findet immer wieder zurück zu den „Heimatlosen der Menschheit“, zu Ovid, Dante, Mandelstam, Celan oder Brodsky, denen wunderbar präzise Essays gewidmet sind. Hier lesen wir auch, dass Johannes Bobrowski der Lehrmeister seiner Teenagerjahre und Imre Kertész, der „Niemals-Mitläufer“, sein späterer „Morallehrer“ war oder ihm die Lektüre Ernst Jüngers „persönlich geschadet“ habe.

Grünbein, ein Meister süffisant ironischer Verknappungen (Stefan George sei „der bedeutendste Dichter des Frühmittelalters im zwanzigsten Jahrhundert“), hat ein gewisses Faible für das Saloppe, für Witz und Pointen, für das richtige Tempo und ein Gespür für – horribile dictu – gute Unterhaltung, auch da, wo man seine Einschätzungen nicht teilt.

Man muss nicht die Maßstäbe unseres heutigen Verständnisses vom Verhältnis der Geschlechter anlegen, um Formulierungen wie „Techniken erotischer Überrumpelung“ mindestens unvorsichtig zu finden, wenn sie sich auf Stellen in Ovids „Ars amatoria“ beziehen, an denen es um etwas geht, das man heute schlicht Vergewaltigung nennt. Was Erotik, was Verführung ist, hat jede Epoche neu zu verhandeln. Nicht von ungefähr hatten wir uns doch in unserer eigentlich schon davon verabschiedet, Autorinnen einen Artikel mit auf den Weg zu geben (die Droste, die Zwetajewa) oder Literatur in solche nur für Frauen oder nur für Männer einzuteilen („Mit den Frauen kann man darüber kaum reden, es bleibt eine Literatur für Männerbünde“).

Präzise Lektüren und Selbsterforschung

Eine der herausragenden Qualitäten Grünbeins ist es indes, dass er ein gründlicher, abwägender, sich seinen Problemen stellender, mit seinen Sujets immer wieder hadernder Leser ist. Er schreibt gegen eine verharmlosende Rezeption Gottfried Benns ebenso an, wie er mit dem „Untoten“ Ezra Pound ringt, dem „Dichterdiktator“ und „Höllentouristen“. Gewissenhaft nimmt sich Grünbein auch Felix Hartlaubs, Inger Christensens oder Tomas Venclovas an.

So ist „Aus der Traum“ nicht nur ein Buch, das zeigt, „warum ich zu dem geworden bin, der ich bin“. In Grünbeins dritter großer Aufsatzsammlung finden der Lyriker und der Essayist sowohl räumlich als auch stilistisch neu zusammen. So sehr die Texte Zeugnisse präziser Lektüren sind, so sehr gehen sie aus von der Selbsterforschung ihres Autors: „Ich misstraue mir – das ist der Anfang. Ich suche nach einer Lösung im Ausdruck durch den Sprung in die Dichtung.“ Man sollte ihm direkt hinterherspringen, denn lange schon hat uns niemand mehr so eindringlich ins Offene gelockt.

Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate. Suhrkamp, Berlin 2019. 573 Seiten, 28 €.

Bastian Reinert

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