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Mauerkreuz-Kopien an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei - in einer Simulation des "Zentrums für politische Schönheit".

© AFP

Update

Mauerkreuze an die Außengrenzen Europas: Grenzen müssen fallen

Das Künstlerkollektiv „Zentrum für politische Schönheit“ eröffnet unter den Augen des Staatsschutzes das Festival „Voicing Resistance“ am Gorki-Theater.

Für die Performer in Polizei-Uniform war eigentlich keine Rolle vorgesehen. Sie seien spontan aufgetreten, „um die Mauerschützer zu spielen“, sagt Philipp Ruch. Sollen sie. Für Improvisationen ist der Kopf des Künstlerkollektivs „Zentrum für politische Schönheit“ immer offen. Der Staatsschutz hat bereits seine Statistenposition im Hintergrund eingenommen, über der Menge kreist ein Helikopter, aus dem heraus gefilmt wird. Da fügen sich die Polizisten gut ins Bild. Für die Inszenierung, die den Titel „Erster Europäischer Mauerfall“ trägt, wurden weder Kosten noch Mühen gescheut. Beachtlich. Jetzt ist die Aktion auch noch um eine Erkenntnis reicher: „Die Außengrenzen der europäischen Union werden am Gorki Theater verteidigt“, so Ruch. Das mit dem Hindukusch wusste man ja schon. Aber diese Abwehrstrategie, mitten in Berlin, Unter den Linden, ist neu.

Es ist selten geworden, dass eine Kunstaktion den Staatsschutz auf den Plan ruft. Am Gorki wird das Festival „Voicing Resistance“ eröffnet, das einen Monat lang Künstlern und Performern aus Konfliktorten wie Kiew, Damaskus oder Diyarbakir eine Stimme gibt. Und die gesamte politische Republik schaut zu.

Zwei Busse stehen vor dem Theater, abfahrbereit zur friedlichen Revolution. Auf einem Plakat steht: „Verhalten Sie sich beim Abbau der EU-Außengrenzen friedlich, aber bestimmt.“ Gezeichnet: „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“. Das Künstlerkollektiv „Zentrum für politische Schönheit“ hat zu einer Reise an die Ränder Europas eingeladen. Während am 9. November der Fall der innerdeutschen Mauer gefeiert wird, will man zu den neuen Stacheldraht-Grenzen aufbrechen, die in Bulgarien, Griechenland oder Spanien schon Abertausende Flüchtlinge das Leben gekostet haben. Die Aktivisten wollen sie abreißen. Die entsprechende Anleitung zur Grenzdemontage mittels Bolzenschneider findet sich auf der Homepage des Projekts. Weswegen jetzt auch die Polizei die Busse durchsucht und Gorki-Intendantin Shermin Langhoff darüber verhandeln muss, dass die Identität der Tour-Teilnehmer nicht festgestellt wird. Absurdes Theater.

Es gibt schon lange eine ausgeprägte Sehnsucht nach Wirklichkeit auf der Bühne. Hier findet ein künstlerischer Akt eine so resonanzstarke Rückkopplung in die Realität, dass man an Elfriede Jelineks Bonmot über Schlingensief denken muss, der „den Herrschenden die Zustände wie eine Torte ins Gesicht“ schleudere.

Die Aktion des "Zentrums für politische Schönheit" trifft einen Nerv

Kurze Rekapitulation der Vorgeschichte: Das „Zentrum für politische Schönheit“ hatte Anfang der Woche 14 weiße Gedenkkreuze für die Berliner Mauertoten am Reichstagsufer entwendet. Wie man betonen muss: nicht im Auftrag und ohne Wissen des Gorki Theaters, auf das jetzt massiver politischer Druck ausgeübt wird. Die Kreuze sollen an die EU-Grenzen reisen, „zu ihren Brüdern und Schwestern, wo heute gestorben wird“, wie Ruch sagt. Bilder ihrer Duplikate in den Händen schwarzer Geflüchteter sind bereits auf der Webseite des „Zentrums“ zu sehen. Die Künstler sind daraufhin als Grabräuber und Feierruhestörer geschmäht worden. Sie weigern sich, die nunmehr ideologisch aufgeladenen Sperrholz-Symbole pünktlich zum 9. November zurückzubringen. „Den Gedenktag wollen sie nicht in Berlin feiern“, stellt Ruch klar. Bundestagspräsident Norbert Lammert, der Gerhard Stadelmeier unter den politischen Theaterkritikern, wetterte daraufhin, die Kreuze seien „mit einer heldenhaften Attitüde und einer pseudohumanitären Begründung“ gestohlen worden: „blanker Zynismus“.

Die Aktion trifft einen Nerv. Was dem Künstlerkollektiv bisher noch jedes Mal gelungen ist. Ob sie 25 000 Euro Belohnung aussetzen, um einen der Eigentümer des Panzerkonzerns Krauss-Maffei Wegmann ins Gefängnis zu bringen. Ob sie zur Erinnerung an die 8372 Opfer des Massakers von Srebrenica aus 16 744 Schuhen eine zu den Buchstaben UN geformte Skulptur planen („Die Säulen der Schande“). Oder mit der „Kindertransporthilfe“ eine Aktion der Familienministerin Manuela Schwesig fingieren, die angeblich die Aufnahme von 55 000 syrischen Flüchtlingskindern in deutsche Pflegefamilien versprochen habe.

Bei alldem verbindet sich die geschichtsbewusste Dringlichkeit eines Hans-Werner Kroesinger mit dem subversiven Eulenspiegel-Geist eines Christoph Schlingensief. Philipp Ruch selbst nennt für die „Kindertransporthilfe“ Shakespeare als Referenz. Die berühmte „Mausefalle“ aus Hamlet, jenes Spiegel-Stück, „in dem eine Gesellschaft sich selbst erkennt“. Nicht unbedingt ein schöner Anblick.

In welchem Europa mit welchen Grenzen wollen wir leben?

Was den „Chefunterhändler“ des „Zentrums für politische Schönheit“ – der in Dresden geboren wurde, 1989 kurz vor dem Mauerfall als Kind mit der Familie noch selbst aus der DDR geflohen ist – auf Peter Bergson bringt. Bergson war ein hellsichtiger zionistischer Aktivist, der in den 40er Jahren den Hollywoodautor Ben Hecht („Vom Winde verweht“) engagierte und ganzseitige Anzeigen in der „New York Times“ schaltete. Die wiesen auf die Millionen Juden hin, die in Europa in der „Todesfalle der Nazis“ saßen. „Woraufhin er fertiggemacht wurde“, erzählt Ruch. „Vor allem von seinen eigenen Leuten“. Mit erschütternden Wahrheiten hat sich noch niemand beliebt gemacht. Die Mitglieder des „Zentrums“ werden oft als Aktivisten bezeichnet. Cesy Leonard, „Chefin des Planungsstabs“, betont hingegen: „Wir machen keine Kampagnen. Wir schaffen ein poetisches Werk“.

Er zitiert Platon, demzufolge die höchste Form der Kunst die Politik sei. Im Moment hat die Politik allerdings Mühe, mit der Kunst Schritt zu halten und allein das Thema des Stücks zu verstehen. Es geht nicht um den vermeintlich pietätlosen oder kriminellen Umgang mit Gedenkkreuzen („Wir verhelfen diesen Helden zu neuen Ehren“). Sondern um die Frage, in welchem Europa wir mit welchen Mauern und Grenzen leben wollen. In einem humanistischen oder pseudohumanitären. Ob wir gedenken, oder – so sagt es auch Shermin Langhoff – „weiter denken“.

Eine Zivilgesellschaft probt den Aufstand

Die Aufführung zieht jetzt Kreise. Am Nationaltheater Weimar hat eine Flüchtlingsinitiative jüngst gegen das Transparent protestiert, das an der Hausfront für eine Veranstaltung zum Mauerfall-Jubiläum wirbt: „Die Grenze… ist offen!“ Die Initiative fragt: „Für wen?“. Und verweist in einem offenen Brief auf die Aktion des „Zentrums für politische Schönheit“.

In nur vier Tagen ist es per Crowdfunding gelungen, über 30 000 Euro für die Bustour zum „Ersten Europäischen Mauerfall“ zu sammeln. Mehr als 300 Menschen haben sich auf die 100 Plätze beworben. Es kommt Bewegung in die Kunst. Der Blick auf die Brandmauer liegt frei. Ja, es sollen leuchtende Ballons aufsteigen, es soll Bürgerfeste geben, das betont auch Shermin Langhoff. Aber 25 Jahre Mauerfall bedeuten für sie eben zugleich: „Eine Zivilgesellschaft probt den Aufstand. Stellen Sie sich vor, es kommt bis zur Premiere.“

Übrigens: die Aktion scheiterte. Einem Spiegel-Online-Bericht zufolge sollen am vergangenen Sonntagnachmittag die etwa einhundert mitgereisten Aktivisten und Journalisten daran gehindert worden sein, einen Teil des EU-Grenzzauns nahe Lessowo mit Bolzenschneidern und anderem Werkzeug zu demontieren. Nach Angaben von Stefan Pelzer, der die Aktion zusammen mit Ruch betreute, soll die bulgarische Polizei dafür gesorgt haben, dass die teilnehmenden Personen noch nicht einmal in die Nähe des Zauns kamen. Pelzer verbuchte die Aktion dennoch als Erfolg, schließlich habe man die Leute zum Nachdenken gebracht.

Das Festival „Voicing Resistance“ läuft bis 7. Dezember im Gorki-Studio.

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