Kultur: Nachbarn, Zeugen, Täter
Nazis von nebenan: neue Ausstellungen in Oranienburg und Ravensbrück
Zu welchem Gott betet ein KZ-Kommandant? Wer Volker Schlöndorffs Film „Der neunte Tag“ gesehen hat, bezweifelt, dass in der Hölle überhaupt gebetet wurde. Der spätere Berliner Landesbischof Kurt Scharf, von 1933 bis 1945 Gemeindepfarrer von Sachsenhausen und aktives Mitglied der Bekennenden Kirche, durfte am Karfreitag 1938 gemeinsam mit dem im KZ Sachsenhausen inhaftierten Martin Niemöller Gottesdienst feiern. Zur Kontrolle anwesend war auch SS-Lagerkommandant Hans Helwig, ein ehemaliger Kirchenältester, der, wie sich Scharf erinnert, sofort stramme „Gebetshaltung einnahm“.
Das Interview mit Scharf ist Teil der Ausstellung „Die Stadt und das Lager“ der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Oranienburg-Sachsenhausen. Sie untersucht das Mit- und Gegeneinander zwischen Oranienburgern und den Häftlingen und SS-Bewachern des benachbarten KZ. Das Gespräch mit dem 1990 gestorbenen Theologen stammt aus den Achtzigerjahren. Ergänzt wird es durch aktuelle Video-Interviews mit zehn Anwohnern, die zwischen 1936 und 1945 noch Kinder waren.
Auch die zweite neue Ausstellung der Stiftung lenkt den Blick über die Opferperspektive hinaus. „Im Gefolge der SS. Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück“ widmet sich erstmals explizit den Frauen, die für die SS weibliche Häftlinge aus ganz Europa quälten. Täterinnen, die sich selbst die Hände schmutzig gemacht haben. In der Ausstellung, auch das ein Novum, melden sich einige von ihnen im Interview zu Wort. Sie dürfen ihre Sicht gegen die ihrer Opfer stellen.
Ein Paradigmenwechsel, nicht nur im Ausstellungsbereich. Der derzeit meistdiskutierte deutsche Kinofilm, Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“, zeigt nicht viel mehr als Hitler und seine Paladine – Täter und Mitläufer, erbärmliche Figuren allesamt. Die Koinzidenz von Film und Ausstellungen ist zufällig – und markiert doch eine Hinwendung zu den Tätern des NS-Regimes. Und zwar zu allen, vom „Führer“ bis zum letzten Erfüllungsgehilfen des Terrors.
Biografische und psychologisierende Perspektiven mögen für Filmleute und Schriftsteller, die sich mit den Deutschen im „Dritten Reich“ beschäftigen, ein alter Hut sein. Unter Historikern, die sich unbegreiflich lange allein auf Schriftquellen konzentrierten, galten mündliche Überlieferungen als methodisch anrüchig. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich die „oral history“, das Befragen von Zeitzeugen, in der Geschichtswissenschaft durchsetzen konnte.
Die Sachsenhausener Präsentation, in einem Wachturm an der Nordspitze des Lagers gezeigt, ist Teil der im Aufbau befindlichen, dezentralen Dauerausstellung. Souverän nutzt sie Erinnerungssplitter von Zufallszeugen des 1936 eingerichteten KZ, um Grundsätzliches zu fragen. Was wollte man vom Lageralltag wahrnehmen? Gab es persönliche Kontakte zu Häftlingen oder zu Bewachern? Welches Bild zeichnete die SS über sich und ihr Musterlager öffentlich?
Natürlich sind Täter nie ohne ihre Opfer zu denken. Dass in Sachsenhausen Zehntausende starben, muss Stadtgespräch gewesen sein. Es war am Rauch des Krematoriums zu sehen und zu riechen, bis Ende 1942 wurden die Todesfälle zudem im Rathaus beurkundet. Kurt Scharf und seine Gemeinde versuchten über Lagermauern hinweg wachsam zu bleiben. Doch welches junge Mädchen wollte schon wissen, ob die schmucken Zweimetermänner der SS-Totenkopfdivision „Brandenburg“ regelmäßig an Erschießungen teilnahmen. Todesfälle? Ja doch, aber nur durch Arbeit und Unterernährung. Als ob das einen Unterschied gemacht hätte.
Auch in Ravensbrück, dem idyllisch am See gelegenen ehemaligen Frauenlager, prallten Terror gegen die Gefangenen und Täuschung der Öffentlichkeit direkt aufeinander – noch heute nachvollziehbar am Ort der Ausstellung, einem Apartmenthaus, in dem ledige Wärterinnen wohnten. Der frisch renovierte Bau im heimeligen Spitzdachstil war Teil einer ganzen Siedlung direkt vorm Lagertor, die heute als Jugendbegegnungsstätte genutzt wird. Nur die Häuser der höheren SS-Chargen verfallen –eine Symbolik, die kein Mahnmalarchitekt besser erfinden könnte.
Der nüchterne Blick der Ausstellung gilt über 3500 Wärterinnen, die in Ravensbrück Dienst taten oder ausgebildet wurden. Sie hatten zwar den Geist der SS verinnerlicht, gehörten als Frauen jedoch nie richtig dazu. Die etwa 100 Wärterinnen, über die biografische Informationen bekannt sind, waren sehr jung und sehr schlecht ausgebildet. Obwohl einer selbst ernannten Elite nahe, die über Leichen ging, brachten viele das Kunststück fertig, den mitverantworteten Terror einfach auszublenden.
Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Oranienburg, Di-So 8.30-16.30 Uhr. Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Fürstenberg/Havel, Di-So 9-17 Uhr. Informationen unter www.stiftung-bg.de