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Die Meister von morgen? Dorli Schöllack Carlotta Bähre) und ihr Tanzpartner wollen im Turniertanz um jeden Preis punkten.

© ZDF/Conny Klein

ZDF-Mehrteiler „Ku’damm 77“: Weitertanzen im braunen Urschlamm

Die auf Quotenerfolge abonnierte Autorin Annette Hess spinnt ihre vor zehn Jahren gestartete „Ku’damm“-Reihe weiter. Diesmal im Zeitkolorit der Berliner Drogen- und Disco-Siebziger.

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Seit zehn Jahren tanzen die Schöllack-Frauen nun schon im mittlerweile vierten Dreiteiler „Ku’damm 77“ durch die herrschaftlichen Räume der Tanzschule Galant am Berliner Kurfürstendamm. Und obwohl Mutter Schöllack, die Claudia Michelsen auch diesmal wieder herrlich mit der Aura einer Eiskönigin mit Herz und eingebräunter Gesinnung versieht, jetzt als Tanzschul-Oma präsidiert, tanzen die Töchter Monika, Helga und Eva samt den Enkelinnen Dorli und Friederike weiter nach ihrer Pfeife. Jedenfalls was die emotionale Abhängigkeit von der Übermutter angeht.

Die 14 Jahre erzählte Zeit, die seit „Ku’damm 63“ (von 2021) verstrichen sind, hat das Ensemble – wie das in der Illusionsmaschine Fernsehen so geht – kaum Alterungsspuren gekostet. Und der digital zugerichtete Kurfürstendamm sieht baulich noch ein Stück wiederhergestellter aus.

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Um sich langwierige Dialoge zu ersparen, in denen die Protagonistinnen einander die Erlebnisse der letzten Jahre schildern, hat Hess beherzt einen Cut gemacht. Die drei Teile von „Ku’damm 77“ sind als Film im Film konzipiert.

Immer, wenn Linda Müller, die für den Sender Freies Berlin eine Dokumentation über die Traditionstanzschule dreht, die Schöllack-Frauen interviewt oder ihren Alltag beobachtet, springen die Bilder in grobkörniges 16-Millimeter-Filmformat. Zwar wirkt es mit der Zeit immer seltsamer, dass die Filmemacherin rund um die Uhr an den Schöllacks klebt, aber Expositionsprobleme gibt es durch diesen dramaturgischen Kniff keine mehr.

Der Mutterdrachen. Patriarchin Caterina Schöllack (Claudia Michelsen) lässt auch in den Siebzigern keine Zweifel an ihrer untadeligen Reputation zu.

© ZDF/Conny Klein

Linda Müller (Massiamy Diaby), die Neue im Schöllack-Ensemble, ist afrodeutsch. Was Caterina Schöllack beim ersten Treffen in der Tanzschule fein lächelnd mit dem schneidenden Satz kommentiert: „Am Telefon klangen Sie ganz normal.“

Der braune deutsche Urschlamm

Und schon ist man wieder mittendrin im Zeitkolorit, im braunen deutschen Urschlamm des Nationalsozialismus und der Kriegs- und Nachkriegsjahre, der schon unter den Ereignissen der ersten drei Staffeln blubberte. Damals, als Tochter Monika (Sonja Gerhardt) den depressiven Rüstungsfabrikantensohn Joachim Frank (Sabin Tambrea) heiratete und zuvor Tochter Dorli (jetzt erwachsen: Carlotta Bähre) von einem jüdischen Musiker und einstigen KZ-Insassen bekam. Und Mutter Caterina damit konfrontierte, dass die Tanzschule keineswegs „seit Generationen im Besitz der Familie meines gefallenen Mannes ist“, wie Mutti behauptet, sondern vom Gatten 1936 für eine Reichsmark von der jüdischen Familie Krohn „gekauft“ wurde. Ein exemplarisches Unrecht, das den Schöllacks in Gestalt Londoner Anwälte, die die Immobilie im Auftrag einer jüdischen Stiftung zurückfordern, jetzt nachschleicht.

Oha, ein Joint. Dorli (Carlotta Bähre, r.) bietet ihrer Kusine Friederike (Marie Louise Albertine Becker) einen Zug an. Ricky ist skeptisch, sie will zur Polizei.

© ZDF/Conny Klein

Neben die zentrale Perspektive von Monika, die – als Witwe und alleinerziehende abgebrannte Musikclubbesitzerin wieder bei Mutti eingezogen ist – hat Hess die beiden anderen Mutter-Tochter-Kombinationen gestellt. Monika trainiert Tochter Dorli, eine hoffnungsvolle Turniertänzerin und legt dabei die Strenge einer Eislaufmutter an den Tag. Und Monikas Schwester Helga (Maria Ehrich), die wieder daheim ist seit ihr schwuler Ehemann nach Ost-Berlin rübermachte, versucht die rebellische Tochter Friedrike (Marie Louise Albertine Becker) zu Abitur und Studium zu treiben. Ricky will aber lieber mit Mittlerer Reife abgehen und Polizistin werden.

Das schwarze Schaf. Eva (Emilia Schüle) kommt aus dem Knast und will - plötzlich zu Geld gekommen - eine Disco aus der Tanzschule machen.

© ZDF/Conny Klein

Die größten Kritiker der Elche werden später selber welche. Das ist eine heilige Generationenregel, die sich als Variation auf F.W. Bernsteins Spruch auch in dieser Familiensaga ablesen lässt. Erziehungsfehler zeugen sich fort und bei Annette Hess sind die in Rollenmuster gepressten Frauen zwar Opfer, aber genauso Täterinnen. Das sieht auch Dorli so, die ihre Mutter und Trainerin anbrüllt: „Du bist eine Kontrolletti-Mutter!“

Die Neue. Reporterin Linda Müller (Massiamy Diaby) rückt Mutter Schöllack (Claudia Michelsen) mit der Kamera auf den Pelz.

© ZDF/Conny Klein

Es amüsiert, mit welcher Unverfrorenheit seriellen Erzählens Hess in „Ku’damm 77“ altes und neues Personal etabliert. Wieso ist Sabin Tambrea wieder dabei? War der nicht in der Rolle des Joachim Franck suizidal in die Ostsee gestiegen? Tja. Und was will Linda Müller wirklich von Mutter Schöllack? Tja. Und es verblüfft, wie elegant Hess Zeitgeschichte wie den Tod von Elvis Presley einflicht und die Themen der Siebziger einbindet.

Ihr erster Döner. Monika (Sonja Gerhardt) lernt von einem Libanesen das Oud-Spiel und isst in Kreuzberg eine neuartige Speise.

© ZDF/Conny Klein

Etwa in Gestalt eines 1976 erschienenen Katalogs, mit dem sich deutsche Männer Frauen in Thailand „bestellen“. Das Ding liegt plötzlich auf dem Tisch, als die Frauen zur Beerdigung von Onkel Heiner aufs Dorf fahren, wo das als Rettung für die Tanzschule erhoffte Erbe prompt von Heiners thailändischer Ehefrau eingefordert wird. Eine Episode, die Caterina Schöllack nebenbei noch eine tragische Backstory beschert.

Männer? Fehlanzeige. Ein Gruppenbild der Schöllack-Damen aus „Ku’damm 77“.

© ZDF/Conny Klein

Die hat Tochter Eva (Emilia Schüle), die wegen Todschlags im Knast saß und – kaum zurückgekehrt – „Galant“ zu einem Rolf-Eden-Nachtclub umbauen will, sowieso. So rabiat wie sie auftritt, wähnt man sie direkt auf dem Weg in die Roten Armee Fraktion, die wie der West-Berliner Drogensumpf der Siebziger zur gewalttätigen Absturzatmosphäre jener Jahre zählt.

Auch männlicher Gewalt widmet sich „Ku’damm 77“ wieder in einer neuen Spielart. Und dass Berlin in den Siebzigern auch schon eine Stadt arabischer Einwanderer ist, dafür steht ein libanesischer Musiker, der Monika das Spiel der Oud und ihren ersten Döner (!) nahe bringt. Der multiethnische Cast bringt einen modernen Touch in das auch diesmal wieder schicke Kostüm- und Ausstattungsbild.

Zwischendurch möchte man angesichts der Motivfülle und der zur Bande angewachsenen Frauenriege immer mal wieder die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und Annette Hess fragen, ob sie beim Drehbuchschreiben nicht doch einen Cola-Rum zu viel hatte.

Doch das Ensemble erdet die Story mit einem bodenständigen, differenzierten Spiel, aus dem Michelsens Mutter-Schöllack-Manierismen hervorfunkeln wie Katzengold. Trotz zahlloser TV- und Serienheldinnen ist es immer noch ungewöhnlich, eine Frauen-Saga zu sehen, die die Männer so ungeniert und charmant zur Staffage macht. Die Schöllack-Frauen, die gehören längst fest zur deutschen Fernsehfamilie. Und Familie kann man sich nicht aussuchen, möge sie auch noch so irre sein.

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