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Szenenbild aus dem Film „Queer“ von Luca Guadagnino mit Daniel Craig (rechts) und Drew Starkey.

© Yannis Drakoulidis/Courtesy of A24

„Queer“ von Luca Guadagnino im Kino: Ein fulminanter Daniel Craig sehnt sich nach Liebe

Basierend auf einem Roman von William S. Burroughs erzählt Luca Guadagnino von einem Trinker und Junkie, der einen deutlich jüngeren Mann begehrt. „Queer“ ist ein kühner und zugleich anrührender Trip.

Stand:

Eine schummerige Taverne in Mexiko-Stadt. Zwei Männer haben Fleischspieße bestellt, die der Jüngere genüsslich verspeist, während der Ältere sie nicht anrührt und stattdessen ausschweifend redet.

Es geht um seine „Neigung“, die wie ein Fluch seit Generationen auf seiner Familie voller Perverser laste. Als er das Wort „homosexuell“ extra deutlich über den Tisch zischt, schaut ein Paar am Nachbartisch verschreckt zu dem US-Amerikaner im weißen Anzug herüber.

Sein Name ist William Lee (Daniel Craig), alle nennen ihn nur Lee. Der Schriftsteller ist Anfang der Fünfziger ein bekannter Trinker in den Bars der Stadt. Und wie er hier im Kerzenschein auf sein ebenfalls aus den USA stammendes Gegenüber Eugene Allerton (Drew Starkey) einredet, mischen sich Selbsthass, Stolz und Lust zu einem euphorisierenden Cocktail.

Das Fleischspieß-Dinner wird zum Vorspiel für den ersten Sex der beiden Männer. Eine Nacht, in der Lee sein Glück kaum fassen kann, ein Moment voll trunkener Schönheit, der alle Hindernisse und Widerstände zwischen ihm und Eugene vergessen lässt.

Verschwunden sind sie dadurch aber keineswegs. „Ich bin nicht queer, ich bin entkörperlicht“, sagt Lee einmal. Die Widerstände bilden vielmehr den vibrierenden Glutkern von Luca Guadagninos fulminantem Drama „Queer“, das auf dem gleichnamigen Roman von William S. Burroughs basiert. Das schmale Werk entstand 1952 in Mexiko-Stadt, wohin sich der Autor mit seiner Familie 1949 abgesetzt hatte, um sich einem Drogenprozess in den USA zu entziehen. Bald wieder abhängig, schrieb er dort sowohl seinen Debütroman „Junky“ als auch „Queer“, beide stark von seinen eigenen Erfahrungen geprägt.

Daniel Craig als William Lee in „Queer“ von Luca Guadagnino.

© Yannis Drakoulidis/Courtesy of A24

„Queer“, inspiriert von seinem Verhältnis zu einem 21-jährigen US-Studenten – ein Ex-GI wie Allerton –, kam allerdings erst 1985 heraus. Der 1971 geborene italienische Regisseur Luca Guadagnino („Bones And All“) las den Roman als Jugendlicher und war anschließend nachhaltig fasziniert von Burroughs, was in seiner „Queer“-Adaption deutlich aufscheint – nicht zuletzt in den surrealen Traumsequenzen, die wie eine „Naked Lunch“-Hommage wirken.

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Das Drehbuch zu „Queer“ stammt von Justin Kuritzkes, der viele Sätze originalgetreu zitiert, immer wieder kluge Raffungen vornimmt und der Handlung im Schlussteil durch eine einschneidende Veränderung sogar noch einen Intensitätszugewinn beschert. Er denkt Burroughs quasi in dessen eigenen Sinne weiter.

Einen ähnlichen Glücksgriff hatte Guadagnino bei seiner Verfilmung von André Acimans „Call Me By Your Name“ gemacht, als er James Ivory mit der Drehbuchfassung beauftragte und dieser die Vorlage genial veredelte. Was ihm verdientermaßen einen Oscar einbrachte.

Craig füllt die Leinwand mit Liebessehnsucht

Wie bei dem in den Achtzigern angesiedelten „Call Me By Your Name“ geht es auch in Guadagninos neuem Werk, das auf dem Filmfestival von Venedig erstmals gezeigt wurde, um Begehren zwischen Männern aus verschiedenen Generationen, wobei diesmal aus der Sicht des Älteren erzählt wird. Daniel Craig spielt ihn auf eine ungemein elektrisierende Weise, die Lee mal viril aufgekratzt, mal anrührend verletzlich zeigt und ihn selbst in den finstersten Augenblicken nicht ganz in die Würdelosigkeit driften lässt.

An James Bond muss man während der 135 Minuten Laufzeit jedenfalls keine Sekunde denken, dafür an Craigs frühe Arbeiten, etwa an „Love Is The Devil“, in dem er 1998 den Geliebten des Malers Francis Bacon spielte. Nun füllt er „Queer“ bis zum Rand der Leinwand mit Lees Liebessehnsucht und der Melancholie, die deren Vergeblichkeit auslöst.

Alkohol und Drogen sind ein wichtiger Begleiter Lees, der trinkt, als sei es sein Beruf. „Más“, befiehlt er dem Barkeeper nach schnell geleerten Tequila-Gläsern an der Theke, „mucho más“ fordert er nach einer Runde Bier mit Eugene und seinem Saufkumpanen Joe, den ein kaum wiedererkennbarer Jason Schwartzman in flamboyanter Kaputtheit verkörpert.

Auch Kokain und Heroin konsumiert Lee regelmäßig. In einer langen Einstellung zeigt Guadagnino seinen Protagonisten einmal bei der Vorbereitung einer Spritze: Zu sehen sind zunächst nur seine Hände, dann schwenkt die Perspektive in eine halbnahe Position. Lee setzt sich den Schuss, nimmt einen Schluck aus der Bierflasche und raucht, während die Kamera langsam auf sein in die Leere gleitendes Gesicht zufährt. Allein für diese abgrundtief traurige Szene, die in einer Halbtotalen endet, hätte Daniel Craig schon einen Oscar verdient.

Songs von Nirvana und New Order

Als das Heroin zu wirken beginnt, erklingt „Leave Me Alone“ von New Order, einer der vielen Songs im Film, die Dekaden nach der Zeit entstanden, in denen „Queer“ spielt. Meist passt das gut, etwa während der in Zeitlupe gefilmten Einstellung, in der Lee eines Nachts Eugene zum ersten Mal sieht. Es läuft Nirvanas „Come As You Are“, die Blicke der Männer treffen sich auf einer Straße, in der gerade ein Hahnenkampf stattfindet. Lee hat nur Augen für den schönen Jüngling im Laternenlicht „And I swear it/ I don’t have a gun“, singt Kurt Cobain. Die Zeile spiegelt, wie entwaffnet sich Lee fühlt – obwohl er stets eine Pistole am Gürtel trägt.

Auch die Post-Punk-Kühle von „Leave Me Alone“ ist für die Atmosphäre in der Heroin-Sequenz von entscheidender Bedeutung, wobei die Zeile „I see a vision that would bring me luck“ überdies als Verweis auf Lees Obsession mit einer geheimnisvollen Pflanze gelesen werden kann. Sie heißt Ayahuasca oder auch Yage und soll telepathische Kräfte verleihen. Lee verspricht sich davon, was ihm sein Geld nicht geben kann und was er im Suff gegenüber Eugene einmal mit den Worten „Ich will mit dir reden, ohne zu sprechen“ formuliert.

Dieser ultimativen Verschmelzungsfanatasie jagt er begleitet von ihm im letzten der drei „Queer“-Kapitel in Ecuador nach. (Die tolle Titelsequenz aus Stillleben mit biografischen Requisiten nimmt diesen Trip bereits vorweg.) Was optisch einen harten Kontrast zum Mexiko-Stadt-Kapitel bildet, das im Cinecittà-Studio in Rom gedreht wurde und eine aufgeräumt-theaterhafte Anmutung hat. In den ecuadorianischen Wäldern dominieren Pflanzen, Dreck, Tiere, die Tonspur wird von Trent Reznors und Atticus Ross’ eindringlichem Score übernommen.

Lee kommt seiner Vision bei Guadagnino letztlich näher als bei Burroughs. Der Regisseur geht zärtlicher mit ihm um als der Autor, was darauf zurückzuführen ist, dass dieser „Queer“ kurz nach dem Tod seiner Frau Joan Vollmer schrieb. Er selbst hatte sie bei einem Wilhelm-Tell-Spiel unabsichtlich erschossen.

Der Roman sei durch dieses Ereignis „motiviert und geformt“ worden, schrieb Burroughs 1985 im Vorwort der Erstausgabe, in dem er auch gesteht, ohne den Tod von Vollmer nie Schriftsteller geworden zu sein.

Trotzdem erwähnt er diesen im Buch mit keinem Wort, die Coda des Films hingegen spielt darauf an. Mit diesem eleganten Dreh wäre wahrscheinlich auch Burroughs einverstanden gewesen. Luca Guadagnino und Justin Kuritzkes bringen den „Queer“-Geist mitreißend in die Gegenwart.

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