Neuer Nachwuchswettbewerb der Berlinale: So war die erste Ausgabe der „Perspectives“
Verstört in Kalkutta, verrückt in Wien, verliebt in Taipeh. Die „Perspectives“ zeigen, wie junge Filmemacherinnen und Filmemacher auf die Welt schauen.
Stand:
Eine gute Idee wird nicht schlechter, nur weil sie schon mal jemand anderes hatte. Es spricht für den Pragmatismus und das Traditionsbewusstsein von Festivalchefin Tricia Tuttle, dass sie als erste Neuerung eine Sektion für den filmischen Nachwuchs installiert.
Die hat es von 2002 bis 2023 bereits mit der von Dieter Kosslick und Alfred Holighaus gegründeten „Perspektive Deutsches Kino“ gegeben. Einer beim Publikum populären Sektion, die als Schaufenster und Sprungbrett für den nationalen Filmnachwuchs fungierte, aber zuletzt unter Carlo Chatrian jedes Jahr kleiner ausfiel.

© © Saumyananda Sahi / Moonweave Films
Viele Jungregisseurinnen und -regisseure, die erst an den Workshops der Berlinale-Talents teilnahmen, gaben später ihren filmischen Einstand in der „Perspektive“. Die inzwischen international erfolgreiche Nora Fingscheidt ist so ein Beispiel. 2024 war es aufgrund von Sparmaßnahmen dann ganz vorbei mit der direkten Andockmöglichkeit der deutschen Filmhochschulen an das Festival, das in der „Perspektive“ viele Abschlussfilme zeigte.
Deutsche Filmdebüts gehen nun in alle Sektionen ein, wobei es angesichts der internationalen Konkurrenz kaum noch Abschlussfilme hiesiger Hochschulen auf das Festival schaffen. „Schwesterherz“ von der DFFB-Absolventin Sarah Miro Fischer, gezeigt im Panorama, ist dieses Jahr der einzige. Eine Chance auf den Debütpreis (der wie in den Vorjahren mit 50.000 Euro dotiert ist) hat er nicht. Früher stammten die Anwärter für den besten Erstlingsfilm aus allen Sektionen, jetzt bleibt die Auszeichnung der auf den internationalen Nachwuchs fokussierten Wettbewerbsreihe vorbehalten.
Immerhin belebt Tricia Tuttle mit „Perspectives“ sowohl den Titel wie auch die Absicht eines Schaufensters für den Nachwuchs wieder. Und auch wenn die Filme in der alten „Perspektive“ keineswegs nur deutsche Geschichten erzählten – im letzten Jahrgang 2023 etwa auch iranische, brasilianische, französische, türkische – weitet sich der Blick bei 14 Filmen aus 19 Produktionsländern noch einmal deutlich. Und es sind selten Idyllen, die sich da zeigen.

© © Golden Girls Film
So wie in dem mexikanischen Beitrag „The Devil Smokes (and Saves the Burnt Matches in the Same Box)“ von Ernesto Martínez Bucio, der wie ein Coming-of-Age-Film beginnt und allmählich zu einem klaustrophobisches Familiendrama steigert. Fünf Geschwister finden sich plötzlich in der Obhut der Großmutter zurückgelassen, nachdem die Mutter die Familie ohne Vorwarnung verlässt und der Vater sich auf die Suche nach ihr begibt. Marisol, die Älteste, ist von der Verantwortung für ihre beiden jüngeren Schwestern und Brüder überfordert; wenn es ihr zu viel wird, steckt sie ihren Kopf in einen Eimer voller Wasser.
Und die Großmutter verliert langsam den Bezug zur Realität. Was als kindlicher Anarchismus beginnt, nimmt immer deutlichere Anzeichen einer Verwahrlosung an; irgendwann steht sogar das Jugendamt vor der Tür. Martínez Bucio spielt in seinem Debüt mit Horrormotiven (flackerndes Kerzenlicht, Teufelsanbetungen, Familiencollagen mit ausgeschnittenen Köpfen), sein visuelles Gespür für Atmosphäre ist beeindruckend. Nach dem Festivalhit „Tótem“ von Lila Avilés ist „The Devil“ bereits die zweite Berlinale-Entdeckung aus Mexiko binnen zwei Jahren. Dass Ernesto Martínez Bucio den Preis der Sektion gewann, ist gerechtfertigt.
„In einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten habe ich mich dafür entschieden, krank zu sein“, sagt Pia (Luisa-Céline Gaffron) im furiosen Debüt „How to Be Normal and the Oddness of the Other World“ des Österreichers Florian Pochlatko. Pia ist 26 und kehrt aus der Psychiatrie in ihr Kinderzimmer im Haus der Eltern am Stadtrand von Wien zurück. Ihr Vater hat ihr einen Bürojob besorgt, die Mutter streicht Pausenbrote, alle mühen sich zwanghaft um einen Neustart, Normalität, doch gibt es die überhaupt?

© © Hassala Films
Pias von Psychopharmaka begleiteter Weg zurück ins Leben ist als bunter, wilder, lustiger, trauriger Bilderrausch inszeniert, der direkt aus Pias bipolarem Gehirn zu stammen scheint. „Glauben sie nicht alles, was sie denken“, rät der Psychiater der durch Eltern und Gesundheitssystem aufgefangenen Pia.
Überhaupt einen Psychiater zu sehen, davon können sie in anderen Gegenden der Welt nur träumen. Im Familiendrama „Baksho Bondi“ des indischen Regieduos Tanushree Das und Saumyananda Sahi lässt sich verfolgen, wie die posttraumatische Belastungsstörung eines Ex-Soldaten eine Familie zerstört. Seit Sundar die Offiziersuniform ausgezogen hat, verwirrt wirkt und nichts macht, außer Frösche zu fangen, ist er das Gespött der Nachbarn in einem Vorort von Kalkutta.
Maya, seine Frau, hält den Laden mühsam mit mehreren Jobs am Laufen und hofft vergeblich auf Unterstützung von Sundar. Als der auch noch unter Mordverdacht gerät, flüchtet sich Sohn Debu zur Familie der Mutter, die Sundar auch früher nie akzeptiert hat.
„Baksho Bondi“ ist ein Sozialdrama, das einen bitteren Blick auf die Defizite und Hierarchien der indischen Gesellschaft wirft und konsequent Maya durch ihren Alltag folgt. Arm sein und psychisch krank, ein Mann sein und wirken wie ein verschrecktes Kind: dafür ist weder Platz noch Hilfe vorgesehen.
Ein ebenso naturalistisches Sozialdrama kommt aus Ägypten, „Al mosta’mera“ von Mohamed Rashad. Die ausgeblichenen Bilder eines wüsten Industriegebiets von Alexandria, in dem der 23-jährige Hossam und sein zwöfjähriger Bruder Maro morgens zum Bus stapfen, der die Arbeiter in eine archaische Metallfabrik fährt, lässt nichts Gutes für deren Umwelt ahnen.

© © Static Film & Visual Art Productions
Hossam und Maro nehmen den Platz ihres Vaters ein, der in der Fabrik tödlich verunglückt ist. Ein gnädiger Akt der Firmenbesitzer, um das Familieneinkommen zu sichern. Schnell stellt sich heraus, dass die Arbeit dort dem Eintritt in ein Schweigekartell gleicht, so rabiat sind der Druck und die soziale Kontrolle. Inszenatorisch wirkt „Al mosta’mera“ noch etwas steif, doch in der „Perspectives“-Auswahl ist offensichtlich, dass aus Ägypten und Indien andere Themen kommen als aus Europa.
Landesspezifische Filmsprachen sind die Ausnahme
Wobei „He Mán“, Chu Chun-Tengs poetische, taiwanesische Meditation über Wasser, Liebe, Erinnerung, Verfall und Wachstum ebenfalls ärmliches Leben an der Peripherie der Großstadt Taipeh thematisiert. Aber ohne dessen soziale Härte zu thematisieren.
Stattdessen bringt die vorsichtige Annäherung eines jungen Mannes an eine geheimnisvolle Frau, die er wie eine Nixe aus dem Wasser zieht, mit ihren magisch-realistischen Bildern und dem von Wasser und Wind erfüllten Sound eine einzigartige Farbe in den stilistisch etwas sehr auf Arthouse-Niveau durchnivellierten Wettbewerbs, in dem kaum landesspezifische Filmsprachen auszumachen sind.

© © SPOK Films
Noch so ein Ausreißer wie „He Mán“, ein Unikat, ist „BLKNWS: Terms & Conditions“ aus den USA. Der Videokünster Kahlil Joseph entfaltet in seinem virtuosen Kunstfilm einen Bilderstrom aus Archivmaterial und inszenierten Szenen als kollektiven Erinnerungsfluss schwarzer Menschen.

© © Walang Hanggan
Damit und mit den beiden Schwarzweiß-Filmen „Minden Rendben“, ein Schuld-Drama aus Ungarn, und „Come la notte“ aus Italien über philippinische Hausangestellte, wäre die stilistische Bandbreite der Sektion dann auch umrissen.
Das Gros der Debütanten bewegt sich im konventionellen Rahmen, was Erzählweise und Themenwahl angeht. Die Zeiten sind womöglich zu ernst für überbordenden Spieltrieb und unbändige Experimentierfreudigkeit. Oder die Finanzierung zu schwer. Klare Qualitätsausschläge nach oben oder unten sind keine dabei.

© Flare Film / Chromosom Film
Immer Verlass ist in einem Nachwuchs-Line-up auf Coming-of-Age-Geschichten, die sensibel vom Erwachsenwerden, Orientierungssuche, Mobbing, Eltern-Kinder-Verhältnissen erzählen. Das können Nachwuchsregisseurinnen einfach.
Ein eindrückliches Beispiel ist „Mit der Faust in die Welt schlagen“, das Debüt der Deutschen Constanze Klaue. Aus Sicht der Brüder Philipp und Tobias erzählt sie atmosphärisch dicht vom Drama einer Familie in der immer noch im Nachwende-Grau gefangenen Oberlausitz Anfang der 2000er Jahre.
In einer ganz anderen, weil sexuell aufgeladenen Tonalität und Metaphorik, erzählt „Kaj ti je deklica“ von der Slowenin Urška Djukić von katholischen Chormädchen, die ein Probewochenende auf dem Land verbringen. Der Sommer flirrt, Blicke gehen hin und her, Bauarbeiter baden nackt im Fluss. Und Lucija, die neue im Chor, taumelt durch ein Emotionsfeuerwerk. Die Pubertät ist schließlich Drama genug.
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