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Erstes befristet genehmigtes Zeltlager für Obdachlose in der Fulton Street in San Francisco, mit dem Rathaus im Hintergrund.

© Christopher Michel

Obdachlosigkeit und wie Architektur helfen kann: Erst das Wohnen, dann die Fürsorge

Die Not vor der Tür: Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe mitten im Problembezirk St. Georg macht mit einer Ausstellung konkrete Gegenvorschläge.

Stand:

Wer im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe die Treppe ins zweite Obergeschoss zur Ausstellung „Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ hochläuft, der muss erst einmal unter 43 Schlafsäcken hindurch, die von oben herabhängen.

So viele Kältetote gab es laut dem Straßenmagazin Hinz & Kunzt 2021 in Hamburg, eine gewaltige Zahl. Die Sozialbehörde der Hansestadt führt nur zwanzig in ihrer Statistik an. Wer später an den Folgen der Unterkühlung starb, fällt bei ihr heraus.

Zahlen sind das Material, mit dem anschaulich wird, was los ist in der reichsten Stadt der Republik: Fast 19.000 Menschen leben in Hamburg ohne Wohnung. Das entspricht dem Fünffachen des Bundesdurchschnitts und macht über 10 Prozent aller obdachlosen Personen in Deutschland aus.

Oder man dreht sich auf dem Treppenabsatz auf dem Weg in die Ausstellung noch einmal um und schaut auf den Vorplatz des Museums, das gleich neben dem Hauptbahnhof in Hamburgs Problembezirk St. Georg liegt. Menschen drängen sich vor dem „Drob Inn“, einer Anlaufstelle für Drogenabhängige. Wer mit dem Zug ankommt, sieht ohnehin sofort, dass die Stadt es nicht in den Griff bekommt.

43 Schlafsäcke im Treppenhaus des Museums für Kunst und Gewerbe stehen für die 43 verstorbenen Obdachlosen in Hamburg des Jahres 2021.

© Henning Rogge

Dabei gäbe es Möglichkeiten, wie die Ausstellung demonstriert. „Who’s next“ gibt praktische Anleitungen am Beispiel von 19 Bauprojekten in Wien, Salzburg, Frankfurt am Main, Los Angeles und London. Doch zunächst muss sich das Denken ändern: Bisher wurde Obdachlosigkeit immer als eine Aufgabe der Fürsorge angesehen, inzwischen weiß man, wie viel Architektur beitragen kann.

„Housing first“ lautet das Konzept, das die bisherige Reihenfolge umdreht und Soziales und Bauen als Einheit versteht. Hamburgs ehrgeiziges Projekt „NullBis2030“, bei dem innerhalb der nächsten sieben Jahre sämtliche Obdachlose von der Straße geholt sein sollen, könnte damit Realität werden. Finnland hat es auf diese Weise bereits geschafft.

Dass Obdachlosigkeit in den seltensten Fällen selbstverschuldet ist, hat sich ohnehin als Erkenntnis durchgesetzt. Der Ausstellungstitel spielt darauf an, wie nah die Gefahr in Zeiten von Corona und Arbeitslosigkeit gerückt ist. Mangelnder sozialer Wohnungsbau verschärft sie noch einmal. Die Neubauprojekte in den Innenstädten bedienen eine andere Klientel.

Doch das ist nicht die einzige Ursache, wie die mit Texttafeln, Videofilmen und Architekturmodellen arbeitende Ausstellung vorführt. Sie weitet den Blick auf die Problematik weltweit: Das sich ändernde Klima, Hochwasser, Trockenheit, die zu Verdrängung führen, kann ebenfalls den Verlust der Wohnung zur Folge haben.

Obdachlose in Shinjuku, dem Ausgehviertel Tokios (2003).

© Myrzik und Jarisch

In Los Angeles drohen Waldbrände. In Mumbai wird das Problem verschleiert durch die Wanderarbeiter, die sich provisorische Quartiere bauen. In Moskau gilt Obdachlosigkeit als eine Begleiterscheinung des Kapitalismus, die ignoriert wird. Maßnahmen gibt es keine, eine gesetzliche Definition existiert nicht.

Die Ausstellung könnte depressiv machen, wenn man der jungen Amerikanerin lauscht, die unter Tränen erzählt, wie sie ihrem Kind trotzdem ein gutes Leben zu ermöglichen versucht, oder im Video erlebt, wie die städtische Reinigung in einer anderen US-Stadt innerhalb weniger Minuten ein improvisiertes Quartier vom Bürgersteig fegt. Deren Bewohnerin kann gerade noch einen Koffer herausklauben.

Doch das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe hat anderes im Sinn. Die seit vier Jahren amtierende Direktorin Tulga Beyerle möchte ihr Haus als sozialen Ort verstanden wissen und hat deshalb im Zentrum des gründerzeitlichen Kolosses einen „Freiraum“ eingerichtet: eine riesige Halle mit Sitzgelegenheiten, Bühne, Bibliothek, freiem Tee- und Wasserausschank, an dem man sich einfach treffen kann. Hier verschnauften in den ersten Monaten ukrainische Geflüchtete vor ihrer Weiterfahrt in andere Teile der Republik, hier treffen sich Strickzirkel, verabreden sich studentische Arbeitsgruppen. Was in Bibliotheken längst praktiziert wird, kommt langsam auch in den Museen an.

Blick in die Ausstellung mit Architekturmodell des Wiener Wohnprojekts VinziRast für Studenten und ehemals Obdachlose im Vordergrund.

© Henning Rogge

Ähnlich wie die Kunstgewerbemuseen vor 150 Jahren bei ihrer Gründung dem Handwerk mit ihren Schausammlungen konkrete Vorbilder lieferten, funktioniert auch „Who’s next“. Das Vinzirast in Wien ist so ein Beispiel, das nachgeahmt werden könnte: ein von Studenten und Obdachlosen gemeinsam genutztes Wohnheim mit Gastronomie. Für Laufpublikum gibt es eine Fahrradwerkstatt und das Café „mittendrin“. Auch für die „Star Apartments“ in Los Angeles mit seinen 102 Wohnungen war elementar, dass sich das Gebäude zur Stadt hin öffnet.

Hinter dem Projekt steht eine private Initiative wie bei so vielen Hilfsangeboten für Obdachlose auch in Deutschland: Essensausgaben, Kleiderkammern, medizinische Versorgung. Eine große Karte von Hamburg gleich im Eingangsbereich mit den eingezeichneten Anlaufstellen und ihren Betreibern offenbart, wie sehr sich die Stadt auf private Unterstützung verlässt.

Die Wintermonate machen das Problem vorübergehend sichtbar durch Spendenaufrufe, Wärmestuben und Berichte über Erfrierungstote. Wenn Ende März der „Kältebus“ seine Arbeit einstellt, bleibt die Not weiterhin. Der Kreislauf beginnt von vorn.

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