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Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère. Er wurde 1957 in Paris geboren.

© AFP

Emmanuel Carrères Roman "Yoga": Ohne Heuchelei

Die Literatur kennt viele Wahrheiten: "Yoga", Emmanuel Carrères wunderbar disparater Roman über sich und sein Leben seit 2015.

Emmanuel Carrère macht im Grunde schon auf der ersten Seite seines Romans „Yoga“ klar, dass es ihm um mehr geht als um „ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga“. (Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022. 342 Seiten, 25 €.)

Dieses habe er zwar vier Jahre zu schreiben versucht, dann aber seien die Terroranschläge auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“, eine schwere depressive Phase und der Tod seines Verlegers dazwischengekommen. Doch irgendwo muss er anfangen, ja, eine Chronologie braucht es vielleicht doch.

Also beginnt Carrère mit der Yoga-Thematik, genauer: mit einem der ersten Tage im Januar 2015, an dem er sich zu seinem zehntägigen Vipassana–Kurs aufs Land begibt, nach Morvan, anderthalb Stunden Zugfahrt von Paris entfernt.

Das alles erzählt der 1959 in Paris geborene französische Schriftsteller so, wie man es von ihm kennt: autobiografisch, autofiktional, aus der Perspektive des eigenen Ichs, das all das gerade erlebt und versucht, sich zu dem Stoff, den es gerade bearbeitet, in ein Verhältnis zu setzen.

In der Literatur wird nicht gelogen

So hat Carrère das mit seinem „Russischen Roman“ gehalten, in dem er unter anderem der Spur seines russisch-georgischen Großvaters Georges Surabischiwili gefolgt ist. Oder mit „Der Widersacher“. Darin porträtiert er einen Hochstapler, der seine Familie ermordet, aber auch sich selbst.

Oder mit dem Roman „Alles ist wahr“. Hier ist die Tsunami-Katastrophe, die Carrère auf Sri Lanka miterlebt, der Ausgangspunkt für diverse persönliche Geschichten aus seiner unmittelbaren Umgebung.

„Was die Literatur betrifft oder zumindest die Art von Literatur, der ich nachgehe, habe ich eine einzige Überzeugung. Sie ist der Ort, an dem man nicht lügt“, bekennt Carrère nun im Verlauf seines „Yoga“-Romans. „Was ich schreibe, mag narzisstisch und sinnlos sein, aber ich lüge nicht. Was mir durch den Kopf geht, was ich denke, was ich bin, ist sicher nichts, worauf ich Grund habe, stolz zu sein, doch vor dem Engelsgericht werde ich, ohne mit der Wimper zu zucken, behaupten können, dass ich, wie Ludwig Börne es fordert, ,ohne Heuchelei’ geschrieben habe.“

Nichts als die Wahrheit also schreibt Carrère über seinen Yoga-Kurs. Dabei sollte man ihm natürlich nicht immer über den Weg trauen, genauso wie bei dem Folgenden aus seinem Leben. Zunächst jedoch, im gesamten ersten Drittel des Buches, geht es um Yoga und die Umstände des Kurses in Morvan. Carrère macht Meditations- und Atemübungen, beschreibt sein Zimmer, die Übungsleiter, die Kursteilnehmer. Oder dass Schweigen hier oberstes Gebot ist.

Von den Vritti über Bardo bis zu Vipassana

Der Yoga-Teil ist bisweilen ein großer Spaß, weil Carrère manches ziemlich lächerlich findet und er bei seinen Sitzungen und in der Nacht oft genug an die Sätze denkt, die er in seinem Buch schreiben wird. Der Teil ist hier und da aber auch ermüdend, ja langatmig, weil das Vorhaben, „ein heiteres und geistvolles Buch“ über Yoga zu schreiben, auch beinhaltet, sich passagenweise ernsthaft mit dem Stoff auseinanderzusetzen.

So erklärt er beispielsweise, was die „Vritti“ sind (die Ströme des Bewusstseins, die Wellen an der Bewusstseinsoberfläche) oder „das Bardo“ (die Zone, durch die nach tibetischer Tradition jeder durch muss), oder wer S. N. Goenka war (ein führender Lehrer der Vipassana-Meditation).

Wer mit Yoga grundsätzlich nicht so viel anfangen kann oder bisher nichts damit zu tun hatte, atmet also geradezu auf, als Carrère wegen der mörderischen Attacken auf „Charlie Hebdo“ aus seinem Retreat in Morvan gerissen wird, nicht zuletzt um die Trauerrede auf seinen bei den Anschlägen ums Leben gekommenen Freund zu halten, den Wirtschaftswissenschaftler Bernard Maris.

Nun scheinen nach den eigentlich heiteren Yoga-Episoden auch für Carrère die Dinge enorm ins Rutschen geraten zu sein. Er erkrankt an einer bipolaren Störung, findet es bestürzend, „mit fast sechzig eine Krankheit diagnostiziert zu bekommen, an der man sein ganzes Leben gelitten hat, ohne dass sie einen Namen hatte“, landet monatelang in der Psychiatrie, bekommt Psychotherapien, Medikamente, Elektroschocks – und ist dennoch in der Lage, ziemlich präzise von all dem zu erzählen.

Natürlich haben die Erkrankung und Yoga nichts miteinander zu tun; genauso wenig wie mit dem Tod seines Verlegers Paul Otachkowsky-Laurens oder die Reise nach Leros, die sich dem Aufenthalt in der Psychiatrie anschließt und nicht wenig Raum einnimmt. Carrère kümmert sich auf Leros zusammen mit einer US-Wissenschaftlerin um vier aus Afghanistan geflüchtete Jungs.

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Nein, es gibt in diesem Roman keinen wirklichen thematischen Fokus, Carrère reiht die Lebensepisoden einfach so aneinander. Dass „Yoga“ nicht auseinanderfällt, liegt natürlich am Ich des Autors, an den mitunter großartigen Geschichten, die Carrère erzählt (beispielsweise wie ihn ein „New-York-Times“-Reporter porträtiert oder wie er auf ein Visum für den Irak wartet), an der vermeintlichen Wahrheit dieser Literatur.

Carrère plaudert aus seinem Leben, erinnert sich hier, räsoniert dort, zitiert aus dem „New-York-Times“-Porträt oder aus Arztbriefen, erwähnt auch einige seiner Bücher, so „Ein russischer Roman“. Er gesteht, sich darin „entblößt“ zu haben, so wie überdies zwei andere ihm nahe Menschen: „meine Mutter, die Angst hatte, dass ich ein Familiengeheimnis verrate, und meine damalige Freundin, über deren emotionale und sexuelle Intimität ich mich damals unter dem Vorwand ausgelassen habe, diese sei untrennbar mit meiner eigenen verbunden und gehöre deshalb genauso mir wie ihr.“

Das Ende ist eine Liebeserklärung an die Ex-Frau

Seine Ex-Frau, die Journalistin Hélène Devynck, von der er seit 2020 geschieden ist, sah das anders und setzte sich gegen „Yoga“ vor der Veröffentlichung zur Wehr. Carrère musste Passagen streichen und das Buch umarbeiten. Trotzdem hat er Devynck doch noch mit einem Zitat aus seinem „Alles-ist- wahr“-Roman hereingeholt. Warum? Vermutlich, damit klar wird, was es mit dem depressiven Zusammenbruch seines Erzähler-Ichs auf sich hat, mit dem Zusammenbrechen, auf das laut F. Scott Fitzgerald jedes Leben hinauslaufe (so ein Fitzgerald-Zitat im Roman).

Das Ende dieses Romans ist im Grunde eine Liebeserklärung an Hélène Devynck. Die versteht letztlich nur, wer diese Beziehung, ihr Ende und die Umstände der „Yoga“–Veröffentlichung kennt. Über Devynck ansonsten kein Wort. Überhaupt gibt es da nur eine Frau in dieser Geschichte, die der Erzähler liebt, mit der er sich aber ausschließlich zum Sex trifft; eine Frau, die bald darauf den Kontinent wechselt und aus seinem Leben verschwindet.  Vermutlich hält auch diese Liebesleerstelle Emmanuel Carrères Roman zusammen. Mehr noch aber die Tatsache, dass jeder noch so wahre Roman eine Fiktion ist und als solche ganz eigene Wahrheiten generiert.

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