
© Filmfestival Locarno
Kolumne „Mehrwert“, Folge 15: Der Iran und die internationalen Filmfestivals
Über 400 Menschen wurden in diesem Jahr im Iran bereits hingerichtet, auch die Schikanen gegen Filmemacher gehen weiter. Ali Ahmadzadeh darf nicht ausreisen – und ein Berliner Open-Air-Festival zeigt Filme zur Todesstrafe im Iran. Hinsehen!

Stand:
Eine Frau lehnt sich aus dem Fenster eines fahrenden Autos, ihr offenes Haar weht im Wind, sie schreit „Fuck you!“ Immer wieder, immer lauter.
Schnitt. Die Kamera zeigt jetzt den einsamen Fahrer am Lenkrad – offenbar hat er sich seine zornige Mitfahrerin nur herbeifantasiert. Der Trailer von Ali Ahmadzadehs Film „Critical Zone“ verspricht einen wilden Ritt durch den Underground von Teheran, ein Roadmovie als Momentaufnahme der Wut und der Ängste junger Menschen im Iran. Weltpremiere feiert der Film am Donnerstag nächster Woche im Wettbewerb von Locarno.
Aber ohne den Regisseur. Das iranische Sicherheitsministerium hat den 36-jährigen Ahmadzadeh einbestellt, bereits letztes Jahr wurde er festgenommen und saß einige Tage in Haft. Jetzt wurde sein Visum kassiert und man forderte ihn auf, „Critical Zone“ aus dem Locarno-Programm zurückzuziehen. Der Film, ohne Genehmigung und teils mit versteckter Kamera gedreht, wird trotzdem dort laufen.
Bis Anfang des Jahres saßen die beiden bekanntesten Regisseure des Landes im Gefängnis. Jafar Panahi und Mohammad Rasoulouf kamen zwar vorläufig frei, aber Rasoulof wurde im Mai die Teilnahme an einer Jury in Cannes verwehrt. Willkür, Schikanen, Festnahmen, es geht immer weiter. Auch mit Drohungen gegen jüngere Filmkünstler, die weniger Schutz durch internationale Bekanntheit genießen.
Schaut noch jemand hin? Neue Gesetzesverschärfungen, die den Kopftuchzwang für Irans Frauen mit teils abstrusen Strafen belegen, Überwachungskameras zur leichteren Ahndung von Verstößen, harsche Gefängnisurteile, Hinrichtungen: Am 16. September jährt sich der gewaltsame Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini, die Proteste währen bis heute.
Aber die internationale Staatengemeinschaft tut wenig bis nichts. Die Forderung, die „Revolutionsgarden“ als Terrorgruppe zu listen, blieb unerfüllt, Deutschland hat Förderprogramme ausgesetzt, macht aber weiterhin Milliardengeschäfte mit dem Iran, während alleine im Juli 61 Todesurteile vollstreckt wurden.
Laut Menschenrechtsorganisationen wurden in diesem Jahr bislang 423 Menschen im Iran hingerichtet. Die Bundeszentrale für Politische Bildung zeigt im Open-Air-Kino „Charlie’s Beach“ in der Friedrichstraße in diesen Wochen sechs iranische Filme, auch über die Todesstrafe.
An diesem Donnerstag steht „Morgen sind wir frei“ auf dem Programm, der die von Gewalt überschattete Rückkehr einer Familie aus der DDR in den Iran des Revolutionsjahrs 1979 schildert (21 Uhr, falls nicht wettbedingt gecancelt werden muss). Maryam Moghadams und Behtash Sanaeehas „Ballade von der weißen Kuh“ läuft am 10. August. Im Zentrum des 2021 auf der Berlinale gezeigten Films stehen die Witwe eines unschuldig Hingerichteten und der Richter, der das falsche Urteil fällte.
Rasoulofs Berlinale-Gewinnerfilm „Doch das Böse gibt es nicht“ beschließt die Reihe am 31. August. Das Episodendrama porträtiert Täteropfer und Dissidenten, rückt die Zwänge derer ins Bild, die im Gefängnis die Galgen bedienen müssen und dafür sorgen, dass sich der Strick am Hals des Verurteilten strafft. Wir sollten hinsehen. Gerade weil wir es so genau lieber nicht wissen wollen.
Christiane Peitz schreibt in ihrer „Mehrwert“-Kolumne regelmäßig über Zensur, Menschen- und Freiheitsrechte.
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