zum Hauptinhalt
Kirill Serebrennikow im Gerichtssaal.

© Pavel Golovkin,dpa

Russischer Regisseur: Die rätselhafte Wende im Fall Serebrennikow

Erst Hausarrest, dann Kunstpreise - der Umgang mit dem russischen Regisseur Serebrennikow wirft Fragen auf. Hoffnungen auf ein Tauwetter sind jedoch verfrüht.

Zwei Wochen nach seiner Entlassung aus anderthalb Jahren Hausarrest ist der russische Regisseur Kirill Serebrennikow in der vergangenen Woche mit der bedeutendsten Ehrung der russischen Theaterwelt bedacht worden. Gleich zwei Mal erhielt er die Auszeichnung „Goldene Maske“: für die beste Regie in einer Inszenierung seiner Theater-Truppe Gogol Center und für das beste Stück, das Ballett „Nurejew“. Letzteres hatte im Oktober 2017 Premiere, da stand der Künstler bereits unter Hausarrest. Das Ballett hatte er ebendort inszeniert, wo nun auch die Gala stattfand, auf Russlands größter Bühne, dem Bolschoi Theater.

Parallel dazu war vor einem Moskauer Bezirksgericht der Prozess gegen Serebrennikow fortgesetzt worden. Doch auch hier trug sich Eigentümliches zu. Dem Künstler und weiteren Mitangeklagten wird vorgeworfen, staatliche Subventionen in Höhe von 133 Millionen Rubel unterschlagen zu haben. 40 Verhandlungstage gab es bereits. Die Staatsanwaltschaft hat mehrere hundert Bände an Beweismitteln für ihre Anklage zusammengetragen. Dutzende Zeugen sind vernommen worden, jedes gezahlte Honorar, der Preis jeder einzelnen Schreibtischlampe und jeden Meters Stoff für die Kulissen ist ermittelt worden.

Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen der russischen Justiz, dass eine Anklage vor Gericht in mehr als 90 Prozent aller Fälle zugleich auch die Verurteilung bedeutet. Dahinter steht die bürokratische Logik, dass es die Autorität staatlicher Organe untergräbt, wenn sich zwei ihrer Verkörperungen - die Staatsanwaltschaft und die Richter - öffentlich widersprechen würden. In vielen Fällen wird deshalb die Anklageschrift am Ende dann als Urteilsbegründung fast wortgleich vorgelesen.

Im Falle Serebrennikows taten die Richter nun etwas außergewöhnliches. Sie forderten eine zweite Meinung an. Bis Juni sollen zwei Gutachten erstellt werden. Eine Abteilung des russischen Justizministeriums wird prüfen, ob nach Maßgaben des russischen Strafrechts tatsächlich Geld hinterzogen, verschwendet oder wie auch immer zweckentfremdet wurde. Und eine zweite Expertise soll klären, ob das wirklich Kunst ist, was der international hoch angesehene Regisseur Serebrennikow da macht. Seine Filme laufen auf Festivals wie in Cannes, seine Opern-Inszenierungen in Berlin, Stuttgart oder Hamburg.

Misstrauensantrag gegen die Staatsanwälte

Dies ist ein klarer Misstrauensantrag gegen die Staatsanwaltschaft, und die Moskauer Szene rätselt über die Gründe dafür. Die erste Version: der Fall Serebrennikow ist eine besonderer. Von Beginn an hatten sich bedeutende russische Künstler für ihn eingesetzt. Sie wurden selbst beim Präsidenten Wladimir Putin persönlich vorstellig. Auch aus dem Ausland gab es zahlreiche Solidaritätsbekundungen. Die Bitten an Putin waren vielfach und laut.  Der neigte in vergleichbaren Fällen nicht dazu, seine Meinung zurückzuhalten. Sie kamen schon mal Vorverurteilungen gleich. Im Falle Serebrennikows mischt sich Putin nicht ein. Der Publizist Andrej Kolesnikow brachte das Engagement der Kollegen Serebrennikows in dem Magazin „Forbes“ auf einen sarkastischen Satz: „Unter allen Künsten ist für uns diese die wichtigste: die Fähigkeit mit der Staatsmacht zu reden und sie intelligent zu bitten.“ Doch erklärt das die plötzliche und erstaunliche Milde gegen Serebrennikow?

Andere geben sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Sie fragen, ob jetzt in Russland vielleicht ein „Tauwetter“ begonnen habe. Das Wort „Otepel“ - „Tauwetter“ - ist im Russischen weit mehr als eine poetische Metapher. Es ist der Titel eines Romans von Ilja Ehrenburg aus den 60er Jahren. "Tauwetter" steht für eine ganze historische Epoche, das kurze Jahrzehnt der Entstalinisierung von 1956 bis 1964 - als Breshnew Chruschtschow stürzte.

Der Vergleich jener Zeit mit den Vorgängen um Serebrennikow ist natürlich nicht wirklich korrekt, aber er ist doch ein Signal für das gesellschaftliche Klima derzeit in Russland. Oder zumindest dafür, wie Teile der russischen Intelligenzia den Umgang Putins und seiner Mannschaft mit den Künsten erleben. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Umfrage, die das Lewada-Institut im März durchführte und zum gegenteiligen Ergebnis kam: 70 Prozent aller Russen sehen die historische Rolle des Diktators Stalin positiv, einschließlich der Repressionen jener Zeit. Das ist der höchste Wert, seit solche Daten erhoben werden. Und es ist das Ergebnis von zwei Jahrzehnten putinscher Geschichtspolitik. In der russischen Gesellschaft kann von einem Wunsch nach "Tauwetter" also gar keine Rede sein. Und dass Putin einen solchen verspürt, ist kaum anzunehmen.

Der Publizist Kolesnikow ist deshalb auch nicht optimistisch, dass der Fall Serebrennikow eine Wende im Verhältnis zwischen Macht und kritischer Kunst markiert: „Das ist kein Tauwetter. Das ist, wie immer bei uns, Schneematsch.“ Wie richtig er damit wohl liegt, zeigte sich bei der Preisverleihung im Bolschoi-Theater. Von der Bühne aus rief Serebrennikow seine Kollegen auf, für die Freiheit des Theaters zu kämpfen. Kurz vorher hatten Zivilbeamte am Eingang drei junge Künstler verhaftet, die in der Kategorie Experimentelles Theater für die „Goldene Maske“ nominiert waren. Unter ihnen Veronika Nikulschina, eine der Protagonistinnen der regierungskritischen Punkband Pussy Riot. Die Veranstalter der Gala übergingen den Vorfall. Den Künstlern wurde nach deren Angaben die Verhaftung mit den Worten begründet: Der Geheimdienst FSB habe darum gebeten.

Zur Startseite