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Der öffentliche Raum ist gefährdet: Wir sind viele, wir stehen zusammen – gerade jetzt
Der Anschlag in Magdeburg hat einmal mehr gezeigt, wie verwundbar wir sind. Aber der öffentliche Raum bedeutet nicht nur Ohnmacht, sondern auch Stärke. Demokratie beginnt unter freiem Himmel.

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Vor dem Berliner Dom stehen die Menschen wieder geduldig Schlange. Die Kirchen in der säkularen Metropole sind voll an Heiligabend, obwohl mehr als 80 Prozent der Berlinerinnen und Berliner weder katholisch noch evangelisch sind.
Ist der Kirchgang an Weihnachten nur gute alte Tradition, vertrautes Ritual, Folklore? Vielleicht steckt auch etwas anderes dahinter, denn Kirchen sind beides, öffentlicher Raum und Schutzraum zugleich. Die wiedereröffnete Hedwigkathedrale verrät das schon in ihrer Architektur. Ein helles weites, die Gemeinschaft einhegendes Rund, aber nicht als abgeschlossener Raum, sondern nach außen, gen Himmel geöffnet.
Man feiert Weihnachten im engen Familien- oder Freundeskreis, gleichzeitig ist das Bedürfnis groß nach solch offenen Runden, nach Zusammenkunft, Teilnahme, Teilhabe. Erst recht nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt mit fünf Toten und mehr als 200 Verletzten.
Wir sind viele, wir stehen zusammen, weithin sichtbar im öffentlichen Raum. Deshalb gehen Menschen auf Kundgebungen, deshalb ist das Kerzen- und Blumenmeer in Magdeburg inzwischen zur Größe eines Fußballstrafraums angewachsen, deshalb geht mancher in die Kirche. Oder in die Moschee, die Synagoge, den Tempel. Oder in ein Theater, eine Konzerthalle.

© Jörg Farys/Erzbistum Berlin/dpa
Aber der öffentliche Raum ist gefährdet, seit Jahren. Die Terroranschläge auf U-Bahnen und Züge in London und Madrid, Bataclan in Paris, der Flughafen in Brüssel, die Toten vom Nationalfeiertagsfest in Nizza, der islamistische Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz 2016, die Opfer der Rechtsextremisten in Hanau, die Amokfahrt in der Trierer Altstadt, jetzt Magdeburg – ein Alptraum, der nicht endet.
Den fanatischen oder verwirrten Tätern soll bitte Einhalt geboten werden, mit engmaschigerer Überwachung, mehr Kontrollen, noch mehr Pollern rund um die Märkte. Sicherheit statt Freiheit: verständliche Forderung einer verängstigten Bevölkerung.
Aber der öffentliche Raum bedeutet nicht nur Ohnmacht, sondern auch Stärke. Die Demokratie beginnt unter freiem Himmel, auf dem Marktplatz, der Agora, dort, wo hoher Publikumsverkehr herrscht. Hier bin ich Bürgerin, Zeitgenosse, Mitmensch. Die Versammlungsfreiheit steht im Grundgesetz, die Versammlungsorte gilt es zu verteidigen, nicht leichtsinnig, aber leidenschaftlich.
Als Raum der Begegnungen, zum Demonstrieren und Streiten, zum Feiern, Spielen und fürs Public Viewing, zum Glühwein- und Apfelpunsch-Trinken. Weihnachtsmärkte mögen wie Jahrmärkte oder das Oktoberfest konsumorientiert sein. Dennoch leben sie vom Geist der Offenheit, zugänglich für alle.
Der Gemeinschaftssinn hat es heute schwer. Ich und meins statt Du und wir, America first, sich abschottende Nationalstaaten, neue Grenzzäune, gespaltene Gesellschaften: Der Trend wird sich auch 2025 fortsetzen. Verstärkt wird er durch die eigene Bubble in den sozialen Medien, die safe spaces der Gleichgesinnten.

© dpa/Lando Hass
Im Stadion, auf dem Weihnachtsmarkt oder im Kino wissen wir nicht, um wen es sich bei den Leuten neben uns handelt. Aber uns verbindet ein gemeinsames, oft intensives Erlebnis. Sinnesreize statt Gesinnung: Es schafft Nähe, Verständnis, zumindest die Möglichkeit von Verständigung.
In Zeiten der digitalen Entfremdung sind diese Orte der analogen Zusammenkunft und des Gemeinschaftserlebnisses unglaublich kostbar – woran auch der Berliner Senat angesichts seiner massiven Kulturetatkürzungen kurz vor Weihnachten erinnert sei.
Natürlich sind öffentliche Orte auch anstrengend: Rücksichtslosigkeit ist in den öffentlichen Verkehrsmitteln an der Tagesordnung, die Stimmung auf den Bahnsteigen latent aggressiv. Versuchen wir es auszuhalten: Dass wir nur da ganz Mensch sind, wo wir nicht recht haben wollen, sondern bereit sind, die eigene Überzeugung, den eigenen Glauben mit anderen auszuhandeln.
Wenn volle Kirchen tatsächlich von der Sehnsucht nach solch herausfordernder Gemeinschaft künden, ist das fast schon ein Trost. Und ein Weihnachtswunsch: Der Geist der Versammlungsfreiheit möge auch in den Gotteshäusern wehen. Schön, wenn es Gedränge gibt.
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