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Fährfrau Käthe (Maren Eggert) erfindet Biografien für ihre Passagiere.

© Grandfilm

Sehnsucht, Fortschritt, Vergänglichkeit: „Giraffe“ erzählt von flüchtigen Orten und prekärer Liebe

Im Zentrum des Films von Regisseurin Anna Sofie Hartmann steht der Bau eines Tunnels, der eine kleine Insel in Dänemark für immer verändert.

Er blickt im Vorbeigehen rüber, während er an seiner Kippe zieht, sie spricht ihn später am Strand an. Im Hintergrund braut sich ein Gewitter über dem Meer zusammen. „Giraffe“ ist ein bescheidener Film, aber ein paar große romantische Gesten lässt sich die dänische Regisseurin Anna Sofie Hartmann nicht nehmen.

Diese Gesten gehören zur prekären Liebesgeschichte eines Films, der eigentlich nicht von Gefühlen, sondern von Orten erzählt. Das gibt Hartmann einmal sogar offen zu: Dara (Lisa Loven Kongsli) und Lucek (Jakub Gierszal) liegen nebeneinander am Strand und sie liest ein Stück aus einem Buch von Rebecca Solnit vor: Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, heißt es da, aber die Orte bleiben, ergreifen Besitz von uns.

Orte bleiben, Zeit schreitet fort. Im Zentrum von „Giraffe“ steht der Fortschritt in Form eines Tunnels, der irgendwann Fehmarn mit Lolland, also Deutschland mit Dänemark verbinden soll.

Als ökonomisches Großprojekt zieht er erst mal Menschen an. Lucek lebt eigentlich in Polen, verlegt jetzt aber Glasfaserkabel auf Lolland, für die Häuser, in denen bald die Tunnelarbeiter wohnen sollen. Die Ethnologin Dara lebt eigentlich in Berlin, dokumentiert aber im Auftrag eines regionalen Museums die Häuser und Grundstücke, die für das Projekt weichen müssen.

In einer der ersten Szenen interviewt sie ein älteres Ehepaar, und der Frau kommen beim Gedanken daran, dass ihr Zuhause bald eine Baustelle sein wird, die Tränen. In diesen Momenten scheint „Giraffe“ ganz dokumentarischer Natur, in anderen übernimmt das Drehbuch. Orte beherbergen eigene Geschichten, bevor sie zu Film-Locations werden, und Hartmann lässt diese Geschichten erst mal zu Wort kommen, bevor sie ihnen eigene hinzufügt.

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Wie schon im Rumänien von Maren Ades „Toni Erdmann“ oder dem Bulgarien von Valeska Grisebachs „Western“ – beide Filmemacherinnen waren an der Produktion von „Giraffe“ beteiligt – geht es hier um europäische Arbeitsteilung und ökonomische Ungleichheit. Aber das ist weniger das Thema des Films als sein Ausgangspunkt. Das Großprojekt Fehmarnbelttunnel ist nur der Motor, der etwas in Gang setzt.

Das erlaubt nicht zuletzt eine Gesellschaftskritik jenseits simpler Empörung. In einer schönen Szene erzählen ein paar der von Laiendarstellern gespielten polnischen Bauarbeiter von einstigen Lebensplänen: mit dem im Ausland verdienten Geld ein Haus bauen, die Kinder zur Uni schicken, irgendwann die Familie nachholen. Dann vergingen die Jahre. Der Tunnelbau mobilisiert Menschen, das Großprojekt Liebe aber ist nur noch eine Fantasie.

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Dieser Fantasie hängt bald auch der 24-jährige Lucek an, während die 38-jährige Dara weiß, dass ihre Liebe nur eine prekäre sein kann. Daras Wunsch nach Verstetigung ist nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit gerichtet. Sie vertieft sich in das Tagebuch einer Bibliothekarin, das sie in einem der Häuser gefunden hat, sucht Spuren des geheimnisvollen Lebens im Fotoalbum, fragt im Ort herum.

Viel Welt in einem kleinen Film

So sieht „Giraffe“ dem sogenannten Fortschritt beim Fortschreiten zu, während vergangene Leben und gegenwärtige Begehren ins Bild einströmen. Der Film ist präzise, weiß sehr genau, was er will, ist dabei aber nicht streng, sondern bleibt durchlässig für Zufälle – und neugierig auf alles, was eben so passiert an Orten.

Ein paar Teenager beim Tischtennisspiel, eine Dinnerparty in Berlin, ein Abend im Theater. Erstaunlich, wie viel Welt in einen so kleinen Film passt. Wie ihre Protagonistin ist Regisseurin Hartmann, die 2014 mit ihrem Debüt „Limbo“ für Aufsehen sorgte, auf Lolland geboren, lebt aber in Berlin. Daras Rückkehr ist auch die Hartmanns, aber es geht hier nicht um Heimat in einem emphatischen Sinne.

Ein stummer Dialog in Farben

Das Gegenprinzip zum Fortschritt ist weniger das Haus, das dem Tunnel weichen muss, als die Schifffahrt, die durch ihn obsolet wird. Maren Eggert spielt in ein paar Szenen eine Fährfrau, die ebenso genau und liebevoll das Leben auf Deck beobachtet wie der Film selbst, und dann eigene Fiktionen über die Passagiere spinnt.

Lucek ist irgendwann zurück in Polen, schickt Dara ein kleines Video über seine Heimatstadt. Aufnahmen in schlechter Auflösung, umso mehr von Sehnsucht durchzogen. Dann sehen wir ihn am Fenster stehen, im blauen Licht. Ein Schnitt auf Dara im roten Licht antwortet ihm.

Ein stummer Dialog in Farben, noch so eine große romantische Geste. Auch das Kino ist ein Tunnel, verbindet keine bleibenden Orte, sondern alles, was flüchtig ist.
In den Berliner Kinos Acud, FSK, Lichtblick, Wolf

Till Kadritzke

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