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Glück gehabt. Rapper Ezhel nach der Freilassung mit seiner Mutter.

©  AFP/Bulent Kılıç

Kultur in der Türkei unter Druck: Sieben Jahre Haft für einen Tweet

Harte Tage für die türkische Kulturzene: Die Justiz erlässt drakonische Urteile gegen Regisseure, Sängerinnen und Blogger. Ein Überblick.

Viereinhalb Jahre Haft wegen eines Dokumentarfilms, sieben Jahre wegen eines Kommentars zu einer Fernsehserie, ein Jahr wegen einer Handbewegung auf der Bühne – und das ist nur die Bilanz von einer Woche: In der Türkei werden Kunst und Kultur derzeit geknebelt wie nie zuvor. Mit den Vorwürfen der Volksverhetzung oder Propaganda für eine Terrororganisation werden Meinungsäußerungen von Kulturschaffenden verfolgt, Kritik an der Regierung wird als Beleidigung des Staatspräsidenten oder gleich als Hochverrat geahndet, Jugendkultur wird als Verherrlichung von Drogenkonsum abgeurteilt – und keiner kann je wissen, aus welcher Ecke der nächste Angriff auf die Freiheit der Kunst kommt.

Neue Qualität hatte es jedenfalls – sogar für die Türkei –, als die Dokumentarfilmer Ertuğrul Mavioğlu und Çayan Demirel in dieser Woche für ihren Film „Bakur“ zu jeweils vier Jahren und sechs Monaten im Gefängnis verurteilt wurden. Der Film entstand 2013/14 während der Friedensverhandlungen zwischen der kurdischen PKK und der türkischen Regierung in den PKK-Lagern im Nordirak, um der türkischen Öffentlichkeit einen Einblick in die Realität der Rebellen zu geben. Als die Friedensgespräche 2015 zusammenbrachen, wurde er in der Türkei verboten und seither auf internationalen Festivals in einem halben Dutzend Ländern gezeigt.

"Was habe ich euch denn getan, was soll nun aus mir werden?"

„Terrorpropaganda“, urteilte ein Strafgericht im südostanatolischen Batman am Donnerstag und verurteilte die beiden Filmemacher, die bei der Verhandlung nicht anwesend waren. „Wir hatten unsere Schlussworte noch gar nicht sprechen können“, empörte sich Mavioğlu. „Diese schweren Strafen sind verhängt worden, um alle abzuschrecken, die Filme drehen, Artikel schreiben, die Wahrheit suchen“, schrieb der Filmemacher und Journalist auf Twitter. „Lasst euch bloß nicht abschrecken davon, übt keinesfalls Selbstzensur deshalb“, beschwor er seine Landsleute. „Wir haben so viel überstanden, wir werden auch diese Tyrannei überstehen.“

Weniger kämpferisch nahm die Bloggerin und Influencerin Pınar Karagöz ihre Verurteilung zu sieben Jahren Haft auf. „Sieben Jahre! Wegen eines Tweets! Was habe ich euch denn getan, was soll nun aus mir werden?“, schrie die junge Frau schluchzend in einem Post auf Instagram, wo sie unter ihrem Künstlernamen „Pucca“ fast 700 000 Anhänger hat. In einem Tweet hatte sie sich scherzhaft bewundernd über Figuren der US-Fernsehserie „Narcos“ geäußert, die das Leben des kolumbianischen Drogendealers Pablo Escobar zum Gegenstand hat. „Verherrlichung von Drogenkonsum“, urteilte ein Istanbuler Strafgericht. „Sieben Jahre wegen eines Tweets über Escobar! Escobar selbst hat nicht so viel bekommen“, entsetzte sich die Bloggerin mit rot geweinten Augen und ihrem kleinen Sohn im Hintergrund.

Die Sängerin Zuhal Olcay unterlag inzwischen vor dem Berufungsgerichtshof mit ihrem Einspruch gegen eine knapp einjährige Haftstrafe wegen „Beleidigung des Staatspräsidenten“, die ihr ein Denunziant im Publikum vor zwei Jahren einhandelte. Bei dem Konzert in Istanbul hatte sie eine Strophe eines bekannten Liedes umgedichtet auf Recep Tayyip Erdoğan und davon gesungen, dass seine Zeit auch einmal vorbei sein werde. Darauf wählte ein Zuschauer die Notrufnummer der Polizei und zeigte sie an. Besonders zur Last gelegt wurde der Sängerin, dass sie beim Singen ihrer Zeilen über Erdogan eine abschätzige Handbewegung gemacht habe, berichtete die türkische Presse. „Ein Schande“ sei das Urteil, solidarisierte sich der weltbekannte Pianist Fazal Say am Freitag mit Olcay.

Rapper Ezhel fand einen verständnisvollen Richter

Bereits im Mai war der Rapper Ömer Sercan İpekçioğlu, der unter dem Namen „Ezhel“ auftritt, von der Istanbuler Polizei festgenommen worden. Er soll in seinen Liedtexten und in Kommentaren in sozialen Medien Cannabiskonsum verherrlicht haben. Die Anklage forderte bis zu zehn Jahre Haft. Es war bereits das zweite Mal, dass Ezhel bei der Justiz aneckt. Amnesty International und Unterstützer der Twitter-Kampagne „#FreeEzhel“ setzten sich für den Künstler ein, der schließlich einen verständnisvollen Richter fand: In einer nicht einmal zehnminütigen Gerichtsverhandlung wurde er nach drei Wochen Untersuchungshaft freigesprochen.

Solche Urteile sind aber die Ausnahme angesichts einer eskalierenden Tendenz zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Kunst und Kultur in der Türkei. Die kurdische Malerin Zehra Doğan saß bis zum Frühjahr zwei Jahren in Haft, nachdem sie sie unter anderem für ein Gemälde wegen „Terrorpropaganda“ verurteilt wurde. Der Kulturmäzen Osman Kavala, der sich für das Kulturerbe von Griechen, Armeniern und Juden in Anatolien einsetzte, befindet sich seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft; ihm wird Hochverrat vorgeworfen, weil er sich bei den Gezi-Protesten engagiert hat.

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