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Doppelspitze mit Werbeeffekt: Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek and der künstlerische Direktor Carlo Chatrian vor der Programm-Pressekonferenz am 29. Januar.

© REUTERS/Annegret Hilse

„Wir Menschen brauchen die Magie“: So stellt sich das neue Leitungsduo seine erste Berlinale vor

Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek über ihre erste Berlinale, Berlin im Bären-Programm, DAU im Kino und einen umstrittenen Jurypräsidenten. Ein Interview.

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Wir sind zum Interview mit Carlo Chatrian verabredet, dem künstlerischen Leiter der Berlinale. Wir treffen ihn im Zimmer von Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek im Renzo-Piano-Hochhaus am Potsdamer Platz. Weil hier mehr Sonne scheint, , meint Chatrian, als Rissenbeek dazustößt.

Der 48-jährige Italiener, der zuvor das Filmfest Locarno leitete, und die Niederländerin, 63, die zuvor Geschäftsführerin von German Films war, sind seit März 2019 als erste Doppelspitze der Berlinale im Amt. Sie folgen auf Dieter Kosslick, der 18 Jahre Festivaldirektor in Personalunion war.

Die beiden verstehen sich offenbar bestens. Chatrian äußert sich auch zu organisatorischen Fragen und Rissenbeek weiß auch über die Filmauswahl Bescheid. Die 70. Berlinale (20.2. - 1.3.) zeigt 18 Filme im Bären-Wettbewerb. Der Vorverkauf beginnt am 17. Februar, 10 Uhr.

Frau Rissenbeek, Signor Chatrian, gibt es eigentlich einen neuen Berlinale-Trailer? Wir lieben den guten alten Sternenregen.

MARIETTE RISSENBEEK: Die Sterne bleiben! Wir haben den Trailer nur ein bisschen jubiläumsgerechter gestaltet. Es funkelt noch mehr.

Signor Chatrian, wegen der Arbeitsteilung haben Sie mehr Zeit für die Filmauswahl als Ihr Vorgänger. Wie viele haben Sie gesehen, in wie viele Länder sind Sie gereist?

CHATRIAN: Es dürften etwa 800 Filme gewesen sein. Die Länder habe ich nicht gezählt. Ich war in China, in Afrika, unter anderem in Ägypten, im Libanon, überall in Europa und drei Mal in den USA. Wir leben in einer Welt der schnellen Kommunikation, man kann sich verständigen, auch ohne zu reisen. Aber das persönliche Treffen ist durch nichts zu ersetzen.

Die Berlinale ist größer als Locarno, hier stehen Sie unter Beobachtung der Hauptstadtpresse. Bekommen Sie das zu spüren?

CHATRIAN: Offenbar sind einige unzufrieden, weil ihnen unsere Veränderungen nicht weit genug gehen. Aber wir haben das Programm nicht dahingehend kuratiert, dass wir mit der Vergangenheit brechen wollen. Das wäre doch albern.

Gab es einen Moment, als Sie dachten: Meine Güte, was tue ich mir hier an?

CHATRIAN: Ich bereue nichts, glauben Sie mir. Mit dem Deutschlernen geht es etwas langsamer, als ich dachte, auch weil mir jetzt in der Hochphase die Zeit fehlt. Aber wir haben die Programmstruktur verändert, und meine größte Freude besteht darin, vielen Stimmen Gehör zu verschaffen. Das Amt ist ein Privileg, ein großes Glück.

RISSENBEEK: Ich erinnere mich, dass du eine schlaflose Nacht hattest, als ich von den Schwierigkeiten der Sponsorensuche erzählte. Zum Glück ist das Problem gelöst, wir haben neue Partner und der Bund stellt uns mehr Mittel zur Verfügung.

CHATRIAN: Mariette hat die größeren Herausforderungen – mit Magenta TV und RBB Media konnte sie ja neue Sponsoren gewinnen. Es war ein heftiges Jahr: Als wir die Verträge unterschrieben, konnten wir nicht ahnen, dass das Cinestar geschlossen wird, die „Magic Mike“-Show ins Untergeschoss des Berlinale-Palasts einzieht, die Arkaden renoviert werden und die U2 Richtung Ruhleben nicht am Potsdamer Platz hält. Und am Tag der Programmkonferenz kam auch noch die Enthüllung über die NS-Vergangenheit des Gründungsdirektors Alfred Bauer dazu. Wir haben entschieden, dass der Preis dieses Jahr ausgesetzt wird. Als Auszeichnung für neue Perspektiven in der Filmkunst entspricht er etwa dem Spezialpreis der Jury auf den anderen großen Festivals. Vielleicht wird es künftig bei uns ein ähnliches Label geben.“    

RISSENBEEK: Carlo ist ein lösungsorientierter, optimistischer Mensch. Das hilft.

CHATRIAN: Konstruktiv sein im Chaos, das ist unser Job.

Aller Tage Morgen. Im Berlinale-Galaprogramm läuft Onward“. Zwei Elfenbrüder versuchen es mit dem Zaubern, aber ihnen gelingen nur halbe Sachen...
Aller Tage Morgen. Im Berlinale-Galaprogramm läuft Onward“. Zwei Elfenbrüder versuchen es mit dem Zaubern, aber ihnen gelingen nur halbe Sachen...

© Pixar/Disney

Die Filme selbst sind düster, sagen Sie.

CHATRIAN: Die Wettbewerbsfilme. Die Regisseure schauen mit klarem Blick auf die Wirklichkeit. Wobei wir in anderen Reihen auch Märchen zeigen. Wir Menschen brauchen die Magie, das, was sich im Leben nicht vorhersagen lässt. Auch mit dem Eröffnungsfilm „My Salinger Year“ mit Sigourney Weaver schlagen wir einen anderen, helleren Ton an. Oder mit dem Disney-Pixar-Animationsfilm „Onward“ …

… über zwei Elfenbrüder, die den Zauber wieder in die Welt bringen wollen.

CHATRIAN: Und selbst die düstersten Filme bleiben dabei, dass wir unserem Nachbarn trauen können und der Mensch nicht des Menschen Wolf ist. Filme sind vertrauensbildende Maßnahmen. Anders als bei der Werbung wollen sie dir nichts verkaufen.

Wie viele Stunden vom "DAU"-Projekt haben Sie gesehen, Signor Chatrian?

Burhan Qurbanis Neuverfilmung von "Berlin Alexanderplatz" verpflanzt Döblins Romanfiguren in die Gegenwart.
Burhan Qurbanis Neuverfilmung von "Berlin Alexanderplatz" verpflanzt Döblins Romanfiguren in die Gegenwart.

© Wolfgang Ennenbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Mottos lehnen Sie ab, gibt es trotzdem rote Fäden im Programm?

CHATRIAN: Berlin zum Beispiel. Die Stadt ist dreimal im Wettbewerb vertreten, auf verschiedene Arten. Burhan Qurbanis Döblin-Neuverfilmung „Berlin Alexanderplatz“ spielt in der Nacht, in den Clubs, im Underground. „Undine“ von Christian Petzold zeigt die mythologische Seite der Stadt, Berlin am Wasser, auch unterirdisch. „Schwesterlein“ von den Schweizerinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond spielt rund um die Schaubühne, erzählt vom Theater und von der Kunst, Gefühle zu vermitteln. Oder „Kokon“ in der Reihe „Generation“. Er spielt beim Kottbusser Tor in Kreuzberg, ich wohne ganz in der Nähe.

Qurbani und Petzold erzählen alte Stoffe neu.

CHATRIAN: Auch ein Trend: das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit. „First Cow" von Kelly Reichardt spielt im 18. Jahrhundert, es ist ein Western, der die Idee der frontier auf etwas andere Weise aufgreift, aus der Sicht eines Kochs, der kein Eroberer ist, sondern etwas für andere tut. „All the Dead Ones“ aus Brasilien spielt Ende des 19. Jahrhunderts, es geht um Sklavenhandel. Die Mächtigen, die Ohnmächtigen, ein aktuelles Thema.

RISSENBEEK: Auch „Persian Lessons“ im Gala-Programm gehört dazu. Ein KZ-Insasse erfährt, dass der Lagerkommandant Persisch lernen möchte, und tut so, als ob er die Sprache kann. Er entwickelt dann eine Fantasiesprache, in die Namen seiner Mitgefangenen eingewoben sind. Lars Eidinger spielt den Lagerkommandanten in dieser russischen Produktion.

Auch der neue Wettbewerb „Encounters“ versammelt Arthouse-Filme. Nach welchen Kriterien haben Sie sortiert? Der Rumäne Cristi Puiu, der die Reihe eröffnet, ist ein etablierter Regisseur.

CHATRIAN: Alexander Kluge mit 87 Jahren auch, oder Victor Kossakovksy, beide laufen in „Encounters“. Kossakovskys Dokumentarfilm „Gunda“ ist ein Film über Tiere, ohne Worte. Und Puius „Malmkrog“ ist eine Gedankenreise, ein Essay – es sind herausfordernde Filme. Ein weiteres Kriterium ist die Frage, ob die große Leinwand im Berlinale-Palast dem Film guttun würde. Auch die Größe der Produktion kann eine Rolle spielen: Abel Ferraras „Siberia“ ist eine Art Seelenwanderung, aber als Vier-Millionen-Dollar-Film mit Willem Dafoe ein Wettbewerbskandidat.

Ohne Worte: In Victor Kossakovskys "Gunda", der in der "Encounters"-Reihe läuft, sind Tiere die Protagonisten.
Ohne Worte: In Victor Kossakovskys "Gunda", der in der "Encounters"-Reihe läuft, sind Tiere die Protagonisten.

© Berlinale/Egil Håskjold Larsen/Sant & Usant

Und warum zeigen Sie im Wettbewerb auch „DAU. Natasha“? Das Experimentelle von Ilya Khrzhanovskiys und Jekaterina Oertels Arbeit klingt eher nach „Encounters“.

CHATRIAN: Aber die Erwartung nach der Aufregung um das Berliner DAU-Projekt 2018 ist riesig. Die Arbeit des deutschen Kameramanns Jürgen Jürges ist großartig.

Es gab viel Geheimniskrämerei um die mindestens 700 Stunden Filmmaterial. Ein abgeriegeltes Set in der Ukraine, angeblich pornografische Szenen.... Wie viel haben Sie gesehen?

CHATRIAN: Etwa 40 Stunden. Wir haben lange diskutiert. Für uns war klar, dass die Berlinale nicht das Projekt selbst präsentieren kann, sondern einen der Filme daraus. Wir haben uns für „DAU. Natasha“ entschieden, die Geschichte eines Dienstmädchens. In den Berlinale Specials zeigen wir zudem „DAU. Degeneration“, acht Kapitel, gut sechs Stunden. Sie vermitteln etwas vom Spannungsbogen der Gesamterzählung, die ja in einem Forschungslabor in den 50er Jahren beginnt. Mit der Zeit verwandelt es sich in ein totalitäres Universum.

Szene aus "DAU.Natasha" von Ilya Khrzhanovskiy und Jekaterina Oertel, der im Wettbewerb läuft.
Szene aus "DAU.Natasha" von Ilya Khrzhanovskiy und Jekaterina Oertel, der im Wettbewerb läuft.

© Berlinale/Phenomen Film

Warum läuft im Wettbewerb kein einziger großer US-Studiofilm? Und die Independent-Filme von Kelly Reichardt und Eliza Hittman sind keine Weltpremieren. Gelingt es der Berlinale weiterhin nicht, amerikanische Filme für den Wettbewerb zu gewinnen?

CHATRIAN: Moment, das sind mehrere Fragen. Hittmans Film „Never Rarely Sometimes Always“ über eine Supermarktkassiererin ist ein Studiofilm, auch wenn er nicht so aussieht. Was die Weltpremieren betrifft, habe ich von Anfang an gesagt, dass wir uns vom Druck dieses Labels ein bisschen befreien müssen. Ja, es ist wichtig, dass Filme auf Festivals das Licht der Welt erblicken. Aber dieser Ehrgeiz darf sich nicht gegen die Filme wenden. „First Cow“ von Kelly Reichardt lief in Telluride und New York, aber noch nicht in den US-Kinos. Haben Sie den Film gesehen?

Nein, aber man kann die Kritiken lesen.

CHATRIAN: Okay, für einige US-Journalisten ist er nicht neu. Aber warum sollen wir ihn nicht zeigen? Für eine Regisseurin wie Eliza Hittman ist es ungemein wichtig, dass sie am Sundance-Festival teilnimmt. Warum sollte ich ihrem Film schaden und sagen, wir nehmen ihn nur, wenn er dort nicht läuft? Festivals sind für die Filme da, nicht umgekehrt. Die Filmwelt verändert sich gerade radikal, auch deshalb versteht sich die Berlinale als Forum für die unterschiedlichsten Produktionen. Wir zeigen Damien Chazelles sehr persönliches Netflix-Projekt genauso wie eine eher klassische, aber erzählerisch interessante Miniserie über Hillary Clinton.

Frau Rissenbeek, wie stellt sich die Berlinale auf die Gefahren des Coronavirus ein?

Die britische Schauspielerin Helen Mirren wird mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet.
Die britische Schauspielerin Helen Mirren wird mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet.

© AFP/John MACDOUGALL

Im Hauptprogramm findet sich kein Film aus China. Wegen der politischen Situation dort? 2019 musste Zhang Yimous „One Second“ kurzfristig gecancelt werden, weil die Behörden ihn nicht freigaben.

CHATRIAN: Die Folgen sind nicht für uns schwerwiegend, sondern für die Filmemacher. In China hörte ich häufig: Der Film ist nicht fertig – weil die Freigabe durch die Behörden heute erheblich länger dauert. Im Ausland kann man einen Film ohne „Drachensiegel“ zeigen, aber damit bringt man sich um einen Kinostart in China. Ich freue mich, dass Jia Zhangkes neuer Dokumentarfilm in den Berlinale Specials läuft.

Wie stellt sich das Festival auf die Gefahren des Coronavirus ein?

RISSENBEEK: Wir beobachten die Entwicklungen und stehen in engem Austausch mit dem Robert Koch Institut und den Berliner Gesundheitsbehörden. Erste Maßnahmen für den Festivalbetrieb umfassen zusätzliche Handhygiene-Angebote sowie die Festlegung von Meldewegen, falls es während des Festivals Verdachtsfälle geben sollte. Wie sich die Situation von China-Reisenden entwickelt, ist momentan noch nicht absehbar. Da müssen wir abwarten.

Jury-Präsident ist Jeremy Irons, einer der renommiertesten britischen Schauspieler, aber als Wahl für ein Festival, das sich für Diversität stark macht, nicht unbedingt offensichtlich. Seine konservative Meinung zu gesellschaftlichen Themen wie Homo-Ehe und Abtreibung ist bekannt.

CHATRIAN: Ich verstehe diese Kritik, aber er hat seine lange zurückliegenden Äußerungen längst revidiert. Ich verehre Jeremy Irons, er hat in seiner Karriere die unterschiedlichsten Charaktere verkörpert. Ich vertraue seinem Urteilsvermögen. Selbst als „alter weißer Mann“ – zu der Sorte gehöre ich auch bald – wird er die Bandbreite unserer Filme zu schätzen wissen. Ich gehe doch nicht ins Kino, um mich selbst zu sehen. Es geht um mein Gegenüber, nicht um mich. Den Film einer Frau oder eines queeren Regisseurs kann ich genauso bewerten, genießen und unterstützen. Wenn der wichtige Aspekt der Diversität mein einziges Kriterium bleibt, wäre das nicht zielführend. Ich hätte gerne eine afrikanische Produktion im Wettbewerb gezeigt. Aber wenn wir nur deswegen den sehr schönen Film „Eyimofe, This Is My Desire“ aus Nigeria ins Rampenlicht zerren, täten wir dem Regisseur keinen Gefallen. Er läuft im Forum.

Der britische Schauspieler Jeremy Irons (71) wird Jurypräsident der 70. Berlinale.
Der britische Schauspieler Jeremy Irons (71) wird Jurypräsident der 70. Berlinale.

© Antonello & Montesi

Den Goldenen Ehrenbären erhält Helen Mirren. Auch eine tolle Schauspielerin, aber sie kommt wie Irons aus Großbritannien.

CHATRIAN: Man kann nicht genug gegen den Brexit protestieren!

Locarno hat mit Themen-Retrospektiven Furore gemacht. Warum widmen Sie im ersten Berlin-Jahr die Retro King Vidor, einem klassischen Hollywoodregisseur?

CHATRIAN: Wir haben in Locarno auch Lubitsch, Minnelli oder Preminger Retrospektiven gewidmet. King Vidor war für einen Studioregisseur sehr experimentell. Ich lasse nichts auf ihn kommen.

2019 war die Retro sehr umfänglich, auch deshalb laufen dieses Jahr 60 Filme weniger, „nur“ 340. Werden sie öfter gezeigt? Sie brauchen ja die Ticket-Einnahmen.

RISSENBEEK: Wir wollen nicht weniger Vorführungen anbieten. Aber mehrere Filme haben Überlänge, das reduziert die Programmplätze. Das Cinestar fällt weg, dafür kommen mehrere Cubix-Säle und die Akademie der Künste hinzu. Wir werden sehen, wie es sich am Ende rechnet.

Signor Chatrian, Ihre Familie lebt im Aostatal. Zieht sie bald nach Berlin?

CHATRIAN: Es ist kompliziert, wir haben noch keine Entscheidung getroffen.

Und wie erklärt ein Festivalleiter seinen Kindern seinen Job?

CHATRIAN: Als mein Sohn noch klein war, erzählte er den Nachbarn, dass sein Vater den ganzen Tag auf der Couch sitzt und Filme guckt. Eine stark vereinfachte Darstellung, aber ich hatte nichts dagegen einzuwenden.

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