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Bungalowanlagen auf Gran Canaria

© IMAGO/Dirk Holst/IMAGO/Dirk Holst

„Sopranos“ ist besser als Weihnachten feiern: Ein Buch für alle, die sich dieser Tage enorm unwohl fühlen

Der Berliner Schriftsteller Thorsten Nagelschmidt erzählt in seinem Buch „Nur für Mitglieder“ von seiner Weihnachtsphobie und wie er vor dem Fest nach Gran Canaria flüchtet und die „Sopranos“ schaut.

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Nur noch ein paar Tage, dann ist die Vorweihnachtszeit vorbei, und auch Heiligabend und die beiden sich anschließenden Weihnachtsfeiertage dürften sich schnell erledigt haben. Nicht für alle Menschen, gerade auch in Deutschland, ist Weihnachten die schönste Zeit des Jahres. Zum Beispiel für den 1976 im westfälischen Rheine geborenen Berliner Schriftsteller und Muff-Potter-Musiker Thorsten Nagelschmidt. Weihnachten einfach ignorieren, das wäre ihm am liebsten. Doch so einfach ist es halt nicht.

Also ist er vor zwei Jahren zehn Tage vor Heiligabend nach Gran Canaria geflogen und hat dort ein Appartment in einem Vier-Sterne-Hotel gebucht. Sein Plan: Tag und Nacht „Sopranos“ schauen, alle Staffeln, 86 Stunden und 12 Minuten lang. „Wenn ich am 26.12. abends durch sein und den 27. freimachen will, bevor tags drauf mein Flug zurück nach Berlin geht, muss ich 7,81 Folgen pro Tag schaffen.“

Es geht ihm darum, „irgendwas daraus zu machen“, natürlich ein Buch, so wie einst David Foster Wallace, der nach einer Luxuskreuzfahrt in der Karibik „Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich“ schrieb. Thorsten Nagelschmidts Buch über seinen „Sopranos“-Versuch auf Gran Canaria heißt „Nur für Mitglieder“, das All-Inclusive-Bändchen an seinem Handgelenk zeugt davon, und ist eine Mischung aus Reisereportage, Autobiografie und Essay geworden, mit der Sopranos-Familie als sehr dezentem Leitmotiv.

Nagelschmidt treibt sich in seiner Hotelanlage in Maspalomas herum, anderthalb Kilometer vom Meer entfernt, registriert, wie wenig schön das alles ist, ein „Nicht-Ort“, beobachtet die Miturlauber, vor allem aus England, lernt den einen oder die andere kennen, ohne sich intensiver mit ihnen bekannt zu machen, versagt sich aber die Boshaftigkeit und Bissigkeit von David Foster Wallace nach seiner Kreuzfahrt. Schließlich ist er dazu da, „Sopranos“ zu schauen, Abstand von Weihnachten zu bekommen, sich nicht ausgeliefert zu fühlen.

Der Musiker und Autor Thorsten Nagelschmidt, hier nicht auf Gran Canaria, sondern im Sommerbad Humboldthain in Berlin.

© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Man hat zu Beginn der Lektüre ein bisschen Angst, zumal wenn man „Sopranos“ nicht kennt (doch wer kennt sie nicht?), dass Nagelschmidt nun noch einmal das Geschehen dieser Serie referiert, das, was er da Folge für Folge schaut, und zwischendrin nicht mehr als den alles andere als aufregenden, wenig hergebenden Urlaubsalltag in einem durchschnittlichen Kanaren-Hotel beschreibt.

Doch glücklicherweise belässt er es nicht dabei, da gibt es ja noch die Weihnachtsproblematik. So zieht er zu dem Hotel- und den „Sopranos“-Strang einen dritten Strang in sein Buch und erzählt die Geschichte seiner Weihnachten von Kind an und damit die Geschichte einer durchschnittlichen westdeutschen Familie, die es nicht schafft, zusammenzubleiben.

„Die Ehe meiner Eltern war keine glückliche, und das wohl von Anfang an“. Nachdem die Eltern sich getrennt haben, da ist Nagelschmidt, zehn, elf Jahre alt, ist es endgültig vorbei mit den sowieso zweifelhaften Weihnachtsfreuden. Nagelschmidt wird zum Weihnachtsphobiker, und aus „Nur für Mitglieder“ wird nach und nach das Psychogramm eines Schriftstellers entlang der Feste von seiner Jugend an.

Nagelschmidt sinniert über Familienzusammenhänge und die Familie als Kern alles Gesellschaftlichen, er reflektiert die Geschichte des Weihnachtsfestes, vor allem unter Zuhilfenahme von Karl-Heinz Götterts Untersuchung „Weihnachten. Biografie eines Fests“, so wie er überhaupt mit so einigen Fußnoten arbeitet, unaufdringlich, mitunter schlagend.

Sind die Menschen derart verdummt?

Zum Beispiel von Fritz J. Raddatz: „Sind die Menschen – von diesem wild gewordenen Kapitalismus – derart verdummt, ihre Neugier aufs Format der Mattscheibe reduziert und ihre Fantasie reduziert aufs Nachahmen von ,Cocktailglas am Swimmingpool’, was sie auf irgendeiner Werbefotografie gesehen haben?“

Nicht zuletzt erzählt Nagelschmidt die eigene Krankheitsgeschichte, die einer durchaus manifesten Depression nicht nur zu eben jenen Festtagen, bis hin zu einem Zusammenbruch im Dezember 2022.

Erstaunlich dabei, mit was für einer Ruhe und Akribie er sich den Weihnachtsfeiern der Familie seiner Freundin widmet, wie er diese beschreibt und sich telefonisch von ihr auf Stand bringen lässt - ein im Grunde widernatürliches Weihnachten in der Hotelanlage einer kanarischen Insel hat da durchaus therapeutischen Charakter.

Doch noch erstaunlicher ist, wie Nagelschmidt sein Schicksal mit dem von Tony Soprano zu kreuzen vermag, wie er in den mitunter skurrilen Sitzungen von Tony bei Dr. Melfi eigene Deformationen zu erkennen meint, bis hin zu einem Backenzahn, der plötzlich Probleme macht. Warum also nicht den Hotelgast, der Zahnarzt zu sein scheint, fragen, ob er nicht einmal in seinen Mund schauen könnte?

„Ich ziehe mir Schuhe an, nehme den Aufzug nach unten und frage den Rezeptionisten, ob der schwule deutsche Angeberzahnarzt vom Pool noch da sei.“ Das ist fast schon „Sopranos“-Humor, so wie Dr. Melfi von Christmas als „Stressmas“ spricht. Ob Thorsten Nagelschmidt seinen Frieden mit Weihnachten gemacht hat? Das Ende des Buches legt das nahe, und wenn Frieden, dann doch bitte zu Weihnachten. Sicher ist, was für ale Weihnachtsphobiker und -phobikerinnen sowieso das beste Sedativum ist, dass die Chose sich in ein paar Tagen wieder erledigt hat. Dann stellen sich schon wieder neue Fragen: Was geht Silvester? Wie wird das neue Jahr?

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