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Die warholeske Diva Renata Litvinova, hier in „Der Klavierstimmer“, war die Lieblingsschausspielerin von Kira Muratowa.

© Antítese/Navegantes Filmes/Antítese/Navegantes Filmes

Sowjetunjon, Russland, Ukraine: Die gebrochene Filmografie der Regisseurin Kira Muratowa

Die 2018 verstorbene Filmemacherin legte sich mit allen an. Eine Werkschau im Kino Arsenal zeigt, wie komisch der Blick auf ihre Mitmenschen auch sein konnte.

Von Andreas Busche

Rückblickend könnte man „Die große weite Welt erkennen“, den dritten Spielfilm der im (heute) moldawischen Soroca geborenen Wahlukrainierin Kira Muratowa von 1978, fast als Friedensangebot verstehen. In der Sowjetunion war die Regisseurin schlecht gelitten. Fünf Kopien kamen von ihrem Debüt „Kurze Begegnungen“ (1967) in die Kinos, der Nachfolger „Langer Abschied“ schaffte es vier Jahre später nicht mal mehr dorthin. Er wurde erst Ende der 1980er Jahre veröffentlicht, als die Sowjetunion schon in den letzten Zügen lag.

In der Partei hatte Muratowa keine Freunde. Ihre Filme waren in politischer Hinsicht zu individualistisch und ästhetisch zu „seltsam“ – stärker beeinflusst von der Nouvelle Vague als vom sozialistischen Realismus. Oder im Partei-Jargon: „zu bourgeois“.

„Die große weite Welt erkennen“, den das Arsenal im April im Rahmen einer Werkschau zeigt, bedeutete Ende der 1970er Jahre einen ersten Bruch in der Karriere von Kira Muratowa, die die Parteikader nicht zuletzt wegen der boshaften Darstellung der Sowjet-Gesellschaft immer wieder vor den Kopf gestoßen hatte. Sie pflanzte mit ihrem ersten Farbfilm sozusagen ein romantisch-komisches Pflänzchen in den grauen Beton des sozialistischen Fortschritts.

Die Baustelle als utopischer Ort

Ljuba, Nikolaj und Michail arbeiten auf einer Großbaustelle, wo eine Traktorfabrik und eine Wohnanlage entstehen soll. Im Gegensatz zur Ménage-à-trois ihres Debüts zeichnete Muratowa ihre Figuren diesmal aber liebevoll – und die Baustelle als utopischen Ort, an dem das Projekt Sozialismus plötzlich greifbar schien. Ihre Handschrift blieb unverkennbar: Jump-Cuts, Ton/Bild-Asynchronitäten, impressionistische Einstellungen ohne erzählerische Zwänge. Eine Poesie in den Beobachtungen, die etwas Taktiles hatte. Rhythmisch klatschen die Arbeiterinnen den Putz an die Wände des Rohbaus, während sie gemeinsam singen; die Arbeit wird zur Choreografie, ähnlich wie die „Kolchose-Musicals“ der 1960er Jahre.

Das Ätzende ihrer Figurenzeichnungen wich einem komödiantisch-skurrilen Tonfall, für einen Moment schien Kira Muratowa mit ihrem Land versöhnt. In Interviews hat sie „Die große weite Welt erkennen“ oft als ihren Lieblingsfilm bezeichnet. Doch nur fünf Jahre später war das Band endgültig zerrissen: „Unter grauen Steinen“ verstümmelten die Zensurbehörden so stark, dass sie ihren Namen zurückzog.

Erst das Ende der Sowjetunion brachte Muratowa die überfällige Anerkennung als bedeutende Regisseurin im europäischen Kino zwischen der Französin Agnès Varda und der Tschechin Věra Chytilová ein. Der letzte Film des sowjetischen Kinos markierte zugleich den Übergang in die neue Zeit. „Das asthenische Syndrom“ gilt als einziger Film, der in der Perestroika-Ära verboten wurde; er fand seinen Weg aber außer Landes nach Berlin, wo er 1990 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde.

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„Das asthenische Syndrom“ war ein prophetischer Film, der die Endzeitstimmung in der sowjetischen Gesellschaft festhielt, kurz bevor das Riesenkonstrukt auseinanderfiel. Heute gilt er als Muratowas Meisterwerk und leitete den Beginn ihrer produktivsten Phase ein. Wie sich herausstellen sollte, war ihr bösartiger Blick nicht nur dem Sozialismus vorbehalten, auch die postsowjetische Gesellschaft wurde zur Zielscheibe ihres gnadenlosen Spotts. Die schwarze Komödie „Der Klavierstimmer“ (2004) mit der großartigen Renata Litvinowa als manipulative Eisprinzessin lässt kein gutes Haar an ihren Figuren, jede(r) haut jeden übers Ohr.

Muratowas wechselhafte Karriere hatte zur Folge, dass sie wahlweise als sowjetische, russische oder ukrainische Regisseurin wahrgenommen wurde. Nach dem Abschluss an der Moskauer Filmhochschule WGIK lebte sie mit ihrem Mann und Arbeitspartner Alexander Muratow in Odessa, wo sie 2018 verstarb. Dass sie nun ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion ihre erste posthume Retrospektive in Berlin bekommt, lenkt auch noch einmal den Blick auf ihre gebrochene Filmografie.

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