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In einem Seminar lernen die Teilnehmer, ihre Scheu vor Berührung zu überwinden.

© Manekino Film, Rohfilm, Pink, Agitprop, Les Films de l'Etranger

„Touch Me Not“ gewinnt bei Berlinale: Das Wesen der menschlichen Intimität

Adina Pintilie hat mit ihrer distanzlosen Doku „Touch Me Not“ den Goldenen Bären bei der Berlinale geholt. Der Film ist eine Geiselnahme, die Geisel ist das Pubkikum.

Dieser Film versprach, im schlimmsten Fall eine Strapaze zu werden, und er löste sein Versprechen ein. Die erste Szene: menschliches Haar auf weißer Haut, in unfassbarer Vergrößerung, nicht das Haar, wie es uns auf dem Kopf wächst. Leises Murmeln im Saal. Jemand muss niesen, was zu einem spontanen Lachen der Weltpresse führt. Das ist interessant, denn ein Husten hätte diese kleine Autonomiebehauptung – und jedes Lachen ist eine – kaum zugelassen. Und dann macht die rumänische Regisseurin Adina Pintilie ernst. Ihr Gesicht erscheint und sie fragt sich selbst, alle und niemanden: Warum habe ich dir nie erzählt, worüber dieser Film ist? Und schlimmer noch: Warum hast du nie gefragt?

Zu intim? Adina Pintilie will das Wesen der menschlichen Intimität erkunden und die 50-jährige Laura (Laura Benson) ist ihre Hauptversuchsperson. Lauras Blick, ihr Mund sind wie ein Widerruf der Intimität, streng, mit einem Anflug von Bitterkeit. Das kann leicht passieren, wenn man schon 50 ist und das Gefühl hat, das Leben hätte einem ein paar entscheidende Dinge vorenthalten.

Laura will lernen, wie man sich öffnet. Sie sagt, sie bestehe aus dem Verhältnis 90:10. Neunzig Prozent von ihr wollen sich verstecken, 10 Prozent sind mit aller Macht dagegen. Seltsamerweise bilden die 90 Prozent bald den visuellen Rettungsanker von „Touch Me Not“. Wie human sind doch die Mienen der Distanz. Nur auf die kann man wirklich zugehen, die Abstand halten können!

Das Gegenteil von Intimität

Aber Laura hat beschlossen, die zehn rebellierenden Prozent zu fördern, weshalb das Auge des Zuschauers sich bald auf einem schönen, beschrifteten jungen Männerkörper ausgesetzt findet. Er duscht, und sie darf zusehen. Ein Callduscher also. Er trägt zwei tätowierte Sterne unterm Nabel und an der linken Seite eine lange Mitteilung. Die würde sie gern lesen, aber der Körperinhaber sagt, das sei bulgarisch und außerdem sehr intim. Dann onaniert er vor den Augen seiner Kundin und wir müssen zugucken. Wäre dieser Film doch in einem optischen Bulgarisch gedreht.

Intimität? Es ist das Gegenteil davon. Wörtlich bedeutet das lateinische Wort: dem Rand am fernsten. Also am weitesten innen. Doch noch weiter außen können zwei Menschen gar nicht sein als Laura und ihr bezahlter Besuch.

Einem allgemeinen Irrtum zufolge gilt das Sexuelle als das Intimste. Doch der Geschlechtsakt als solcher stellt als Verrichtung so ungefähr den Gegenpol dar, er ist, gemessen an unserer sonstigen Verfassung, ein ziemlich skandalöser Fall von angewandter Tierheit. Insofern hat der Callboy recht, als er der Fremden sein Intimstes, nämlich die bulgarische Inschrift, nicht zeigen will.

Und dann ist da noch ein junger Mann mit wimpernlosen Augen: Er sagt, es sei ihm sehr unangenehm, sich im Gesicht berühren zu lassen. Es sei wie von einer Klippe zu stürzen, denn das Gesicht sei ein sehr intimer Bereich. So ist es. Leider nimmt er an einem Seminar teil, wo er das Gegenteil lernen soll und am Ende dieser 125 wahrscheinlich angreifendsten Minuten des Festivals hat er es gelernt. Manchmal lernt man auch das Falsche.

„Touch Me Not“ ist eine Geiselnahme, die Geisel ist das Publikum. Dieser Film gehört nicht in den Wettbewerb, denn ihm fehlt das Wesentliche der Kunst: Distanz. Der junge Mann mit den wimpernlosen Augen hat mit 13 Jahren durch eine Krankheit seine Haare verloren; er sagt, es sei, als trage man eine Maske weniger. „Touch Me Not“ greift das freudig auf. Werft die Masken weg! Ist das der Weg? Ein therapeutischer ganz sicher, aber darüber hinaus? Das Kino etwa ist eine einzige große Maske, es ist eine geradezu aberwitzige Form der Maskierung, aber allein dadurch entsteht der ästhetische Raum, auch der Raum entlasteter Erfahrung und wirklicher Erkenntnis.

Sich mit dem Körper anfreunden

„Touch Me Not“ ist im eigentlichen Sinn nicht kritisierbar, auch wenn er sich bewusst in einem Niemandsland aufhält, eine Dokumentation und auch wieder keine Dokumentation sein will. Man kann nicht behaupten, dass die Berlinale zu wenige Reihen hätte, aber eine ließe sich gewiss noch hinzufügen, schon um Wiederholungsfälle zu vermeiden: Wenn es das Kulinarische Kino gibt, warum nicht auch das Therapeutische Kino?

Über dem ganzen Exerzitium liegt ein ungemein dilettantischer Song: „Mela-, Mela-, Mela-ncholia schwebt über der Stadt und über dem Stoppelfeld“. Der Erkenntnisgehalt von „Touch Me Not“ geht an keiner Stelle darüber hinaus. Das heißt nicht, dass die Beteiligten nicht auf neue Weise zu sich gefunden hätten, eine neue innere Balance. Denn in einem hat Laura, die 90:10-Prozent-Frau, natürlich Recht: Wir müssen jeden Tag 24 Stunden mit unserem Körper zusammenleben, da sollte man schon mit ihm befreundet sein, so gut es geht. Am Ende tanzt Laura den Zehn-Prozent-Befreiungstanz. In „Khook“ veranstaltet der mit Drehverbot belegte Regisseur Hasan ein ähnliches Privat-Dionysium, doch das eine Mal ist es großes Kino, das andere Mal eine Verlegenheit.

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