
© Yuri Yuriy Gurzhy
Ukrainisches Kriegestagebuch (151): Die Platte einer ganzen Generation
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
6.7.2023
Wenn ich meinen deutschen Freunden erzählt hätte, dass ich letzte Nacht von Wakhtang Kikabidse geträumt habe, würden sie mich wahrscheinlich fragen, wer das ist. Die Ukrainer hingegen würden das nicht tun, denn der wunderbar grauhaarige Georgier mit einem weisen Blick und besonderem Humor ist bei uns längst eine Legende. Denke ich an seine tiefe Stimme und melancholische Lieder, so erinnere ich mich an Leonard Cohen.
Kikabidse war nicht nur Sänger, sondern auch Schauspieler, und seinen größten Erfolg feierte er mit der Rolle eines Hubschrauberpiloten aus dem georgischen Telawi in der Komödie Mimino, die 1977 herauskam. Bis heute genießt dieser Film von Georgij Danelija einen absoluten Überkult-Status im postsowjetischen Raum, Miminos Dialogen wurden oft und gerne zitiert.
Auch in russland war Kikabidse äußerst beliebt, er hätte problemlos jeden großen Saal dort füllen können. Für viele war es ein Schock, als er nach dem russischen Blitzkrieg in Georgien 2008 dem Land der Besatzer Boykott erklärte. Seitdem und bis zu seinem Tod im Januar dieses Jahres hat er kein einziges Konzert in russland gegeben.
Im Mai 2016 saß ich mit den Musikern einer georgischen Band in einem Restaurant im Zentrum Kiews. Das Essen war köstlich und die Stimmung war großartig, bis einer der anwesenden Ukrainern eine Zeile aus Mimino zitierte, was den Georgiern offensichtlich unangenehm war. „Ist Euch eigentlich aufgefallen, dass die einzigen normalen, gut aussehenden Menschen im Film russen sind?“, fragte der Sänger und fügte hinzu: „Irgendwie werden Georgier und Armenier als Freaks dargestellt – plump und ungeschickt, man lacht nur über sie“. Am nächsten Tag spielte seine Band am Sofievska Platz, nach ihrem Konzert war Oleg Skrypka aus der Band VV dran, begleitet von einem Jazzorchester, und dazwischen legte ich auf.
Zeichen des Universums lesen
Ich frage mich, was mir das Universum mit dem Kikabidse-Traum sagen möchte – könnte es vielleicht etwas mit Georgien und VV zu tun haben? Denn heute, auch wenn es nicht allen Berlinern bewusst ist, ist in der deutschen Hauptstadt ein VV-Tag. Um 18 Uhr wird sich das Publikum im Humboldt Forum mit ihrem Album Tantsi auseinandersetzen. Der Anlass ist die Buchpräsentation von der amerikanischen Musikwissenschaftlerin Maria Sonevytsky, die sich jahrelang gründlich mit dem Thema beschäftigte.
Bei meinem Kiew Besuch im März 2020 habe ich auf Facebook zufällig gesehen, dass auch der New Yorker Musiker Franz Nicolay in der Stadt war. Wir sind uns nie persönlich begegnet, ich hatte aber nur wenige Wochen zuvor sein Buch „The Humorless Ladies of Border Control“ gelesen und war begeistert. Daher habe ich ihn einfach angeschrieben, ohne große Erwartungen zu haben – und schon zwei Stunden später tranken wir Kaffee in einem gemütlichen Café im Künstlerviertel Podil. Da Franz in seinem Buch von DIY-Touren quer durch Osteuropa berichtet, war es für mich nicht allzu überraschend, dass ihn seine Reise auch nach Kiew führte.
Er erzählte, dass seine Frau Maria auch gerade in Kiew war und über Kindermusik in den Sowjetzeiten recherchierte. Das weckte meine Neugierde, also googelte ich Maria Sonevytsky später und bestellte mir ihr erstes Buch, Wild Music: Sound and Sovereignty in Ukraine. Wir freundeten uns auf Facebook an und haben gelegentlich einander geschrieben.
Wegweisender Einfluss auf eine ganze Generation
Ich hatte das Privileg, ihr neues Werk im Voraus zu lesen und war zutiefst beeindruckt. Sie hat über das erste Album von VV geschrieben – eine der bedeutsamsten Platten der jüngsten Geschichte der Ukraine, die 1989 herauskam und einen wegweisenden Einfluss auf eine ganze Generation von Musikern und Musikfans der unabhängigen Ukraine hatte. Das Buch darüber ist ein Meilenstein und ich bin mir sicher, dass es eines Tages in der Kulturgeschichte gelehrt werden wird.
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