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Das Reisegepäck von Yuriy Ghurzy.

© Yuriy Ghurzy

Ukrainisches Kriegstagebuch (145): Die kriegsfreie Parallelrealität meiner alten Freunde

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Stand:

18.6.2023
Am Freitag war es endlich so weit – nach Wochen intensiver Proben hatten wir mit unserem Team die Premiere der Theateraufführung „Die letzten Ritter von Grünau“. Nach der dritten Vorstellung fahre ich am Sonntagabend zurück nach Berlin. Der Zug ist voll, einen Platz reserviert zu haben, erweist sich als eine kluge Investition, letztendlich weiß man bei der Deutschen Bahn nie, wieviel Zeit man im Zug dann tatsächlich verbringt.

Zu meiner Linken sitzt ein schwarzhaariger Herr Mitte 30 mit einem gepflegten Bart, der vertieft in ein dickes Buch ist. Ich habe auch ein dickes Buch dabei, eine Anthologie der ukrainischen avantgardistischen Dichtung. Ich habe es bereits vor Wochen aus Berlin mitgeschleppt, der Band lag die ganze Zeit in meiner Leipziger Wohnung rum, ich bin jedoch nicht dazu gekommen, es aufzuschlagen.

Jedes Mal, wenn ich ein bisschen Zeit hatte, las ich Nachrichten. Aber jetzt ist ein perfekter Zeitpunkt, ich fische das Buch aus dem Koffer raus und fange an, zu lesen, während alle anderen Passagiere in ihre Handys starren.

Ich werfe einen kurzen Blick in das Buch meines Nachbarn und stelle fest, dass es auf Griechisch ist. Vor 20 Jahren habe ich viel Rebetiko gehört und habe das griechische Alphabet gelernt, um die Namen der Sänger*innen entziffern zu können. Ich versuche, den Titel des Buches oben auf der rechten Seite zu lesen. B…R… Ach so. „Die Brüder Karamasow“.

Ich las es Anfang der Neunziger, zur Zeit des Umbaus und der großen Experimente hat die Direktorin unserer Schule ein wöchentliches Seminar zu den „Brüdern Karamasow“ eingeführt. Meine Klassenkamerad*innen waren nicht begeistert, doch ich habe es gern besucht, weil ich den Roman und seine perversen Protagonisten irgendwie spannend fand. Ich war zudem davon fasziniert, dass man sich über das Thema ein Jahr lang unterhalten kann.

Heute frage ich mich natürlich, wieso zum Teufel Dostojewski? Warum nicht Schewtschenko oder Kotljarewskyj? Oder wie wäre es damit, den Schülern über die Autoren zu erzählen, die in ihrer Heimatstadt gelebt haben und vor sechzig Jahren massenhaft ermordet wurden?

Literatur gehörte seit der ersten Klasse zu meinen Lieblingsfächern. Das andere war Kunst, aber es wurde nur bis zur siebten Klasse unterrichtet und mit zwölf war mir eh bereits klar, dass ich nicht besonders talentiert im Zeichnen bin und es höchstwahrscheinlich nicht mein Schicksal ist, ein weltberühmter Maler zu werden.

Aber es hat sich so ergeben, dass viele Freunde von mir in Charkiw der Neunzigern Künstler*innen waren. Manche von ihnen zogen nach russland mit der Hoffnung, dort bessere Jobs und höhere Honorare zu bekommen. Wir haben seit Jahren keinen direkten Kontakt, jedoch sehe ich gelegentlich ihre Posts auf Social Media und bin jedes Mal aufs Neue überrascht, wie gut es ihnen gelingt, eine parallele, kriegsfreie Realität zu erschaffen.

Polina Rajkos Werk steht unter Wasser

Auch heute, als ich in der Pause zwischen Mike Johansen und Michajl Semenko, zwei der Autoren aus der Anthologie, durch meinen Facebook-Feed stöbere, entdecke ich einen neuen Beitrag von Lena, die über eine Ausstellungseröffnung in einer Moskauer Galerie schreibt: „als ob wir auf die flachen Oberflächen des geglätteten Gewebes der Realität hinausgeblasen worden wären … So eine zeitgemäße und vielschichtige Ausstellung von einem unserer Lieblingskünstler, organisiert von Wladimir C., dem besten Kurator der Welt!“ In Lenas Facebook geht es fast ausschließlich um Kunst, begeistert berichtet sie über ihre Museumsbesuche.

Direkt unter ihrem Post sehe ich den Beitrag von Maxim, der ein Bild von der überschwemmten Straße im zur Zeit besetzten ukrainischen Dorf Oleschky postet. Hier befindet sich das Haus der Künstlerin Polina Rajko, die im Alter von 70 Jahren begann zu zeichnen und in den darauf folgenden Jahren jede Oberfläche ihres Zuhauses bemalte.

Nach Rajkos Tod im Jahr 2004 wurde es zum Museum – im Moment wird vermutet, dass es ganz überflutet und völlig beschädigt ist. Ich frage mich, ob Lena in Moskau schon davon gehört hat und wenn ja, ob sie möglicherweise darüber schreibt. Aber die Antwort liegt auf der Hand.

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