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Kultur: Und suchten in Wahrheit ein Vaterland

Phönix der DDR-Literatur: Werner Bräunig und sein wiederentdeckter Roman „Rummelplatz“

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Nichts konnte Werner Bräunig mehr erzürnen, als wenn sein Name falsch geschrieben wurde. Laut, ja geradezu vulgär sei der schmächtige Mann dann geworden, erinnert sich sein einstiger Nachbar Harald Korall aus Halle-Neustadt in einem Beitrag für das Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft „Argonautenschiff“. Eine winzige Hallenser „Einraumwohnung“ war Bräunigs letzte Lebensstation. Hierher hatte sich der fünffache Vater nach zwei gescheiterten Ehen zurückgezogen, vor allem aber hatte sich eine der größten genuinen Hoffnungen der DDR-Literatur von ihrem Lebenstraum, dem 700-Seiten-Roman „Rummelplatz“, verabschiedet. Doch was ein Arbeiter geschaffen hat, das zerstört er nicht: Das Manuskript blieb in unzähligen Schnellheftern erhalten. Am 14. August 1976 erlag Werner Bräunig mit 42 Jahren seiner Alkoholsucht. Auf der Granitplatte des Urnengrabs steht seitdem unkorrigiert „Bräuning“.

Auf „Verständnis und Anteilnahme“ hofft Christa Wolf in ihrem Vorwort zur postumen Edition von „Rummelplatz“ bei den Lesern in Ost und West: „Ein Buch wie dieses wäre in mancher Hinsicht als beispiellos empfunden worden.“ Sie und Anna Seghers gehörten zu den wenigen Kulturschaffenden, die beim 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, dem so viele DEFA-Filme zum Opfer fielen, den Arbeiterschriftsteller Bräunig offen verteidigten.

Zwei Monate zuvor war das vierte Kapitel seines unfertigen Romans, der ursprünglich „Der eiserne Vorhang“ heißen sollte, als Vorabdruck in der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ erschienen. Der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht persönlich fühlte sich durch Bräunigs düster-impressionistische Schilderung eines typischen Feierabends der Wismut-Kumpel („Die Wismut ist ein Staat im Staate und der Wodka ist ihr Nationalgetränk“) in seinen Kleinbürgergefühlen verletzt. Zuvor war bereits ein bestellter Leserbrief im „Neuen Deutschland“ erschienen, verfasst von Bergarbeitern der Wismut AG, des geheimnisumwobenen größten Reparationsbetriebs unter sowjetischer Leitung. Weitgehend schutzlos bauten die meist ungelernten Kräfte dort Uran ab. Das schildert Bräunig am Beispiel des Professorensohns Christian Kleinschmidt. Um studieren zu können, muss er sich als „Bürgerlicher“ in der Produktion bewähren: „Uran hat 238 Atomgewicht, eine hohe Dichte, die Pechblende lagert schwer. Christian zerrte die Kisten vom Erzplatz weg, höher hinauf, dem Einstieg zu.“

In den Monaten nach dem 11. Plenum sah sich Werner Bräunig mit einer zermürbenden Diskussion nach der anderen konfrontiert. Dabei habe er gar nicht recht verstanden, worum es eigentlich ging, schreibt Angela Drescher im Anhang ihrer editorischen Großtat, zu der sie die Söhne Bräunigs anregten und für die man die „Aufbau“-Lektorin gar nicht genug rühmen kann. Schließlich löste der Mitteldeutsche Verlag den Vertrag, außerdem verlor der gebürtige Chemnitzer seine Dozentenstelle am Leipziger Literaturinstitut. Der ehemalige Schlosser, Vagabund und Schmuggler zwischen den Besatzungszonen, Papierarbeiter, Bergmann und sprachbegabte „Volkskorrespondent“: Ihn hatte der junge Staat DDR als sein Talent erkannt und gefördert – und dieser Staat war es auch, der sein Geschöpf, seinen Zauberlehrling, verstieß.

Denn anders etwa als Hermann Kant, der als Absolvent einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät seine Scharfzüngigkeit stets linientreu hielt, spricht Bräunigs epochaler Deutschland-Roman mit der „größten Naivität, ohne die man Kunst nicht machen kann“ (Christoph Hein) alle politischen Tabus seiner Zeit wie „die freie deutsche FDJ-Jugend“ offen aus.

Vor allem aber benennt er den Zivilisationsbruch und die seelischen Verheerungen durch den Nationalsozialismus sowie die heikle Frage der Kontinuität. Nicht zufällig ist der Rummelplatz des fiktiven Erzgebirgsdorfs Bermsthal über den „ausquartierten Leichen“ eines Friedhofs aufgebaut.

„Rummelplatz“ setzt am 12. Oktober 1949 ein, als die DDR gerade fünf Tage alt war, und endet mit dem gewaltsamen Tod des Wismut-Steigers Hermann Fischer am 17. Juni 1953 in Leipzig. Fischer, KPD-Mitglied seit der Weimarer Republik und Widerstandskämpfer, ist der moralische Gewährsmann des Textes. Als Steiger nimmt er Kleinschmidt und dessen Zimmergenossen Peter Loose unter seine Fittiche. In dem ungestümen Chemnitzer Loose, der stets für die Schwachen einspringt, hat sich Bräunig am ehesten selbst porträtiert. Der zweite industrielle Schauplatz ist die Bermsthaler Papierfabrik, wo Fischers Tochter Ruth zur Maschinenführerin befördert wird. Vorgeschlagen hat sie der junge, vornamenlose Funktionär und Personalleiter Nickel. Ihn lässt Bräunig, wie die beiden Bergarbeiter in spe, erst einmal mit seiner ganzen Vorgeschichte aus dem verwüsteten Berlin ankommen.

Die Personalie Ruth Fischer gerät für Nickel zur utopistischen Entscheidungsschlacht: „Würden seine Argumente ausreichen? Was er durchzusetzen gedachte, war schließlich ein Novum in der Papierindustrie, einmalig in Deutschland – nur in der Sowjetunion gab es Beispiele, und Nickel hatte ein Blatt aus der illustrierten Zeitschrift ,Sowjetunion’ in der Tasche stecken, sein schwerwiegendstes Beweisstück. Es ging um nichts mehr und nichts weniger als den ersten weiblichen Maschinenführer.“

In solchen Passagen und noch stärker bei der mehrfachen metaphorischen Gleichsetzung von Maschinenhalle und Fährschiff, wird jene euphorische „Einladung zum neueren Leben“ spürbar, die die DDR eine Zeitlang nicht nur für den jungen Uwe Johnson bedeutete. Das Glück unentfremdeter Arbeit, das Einssein mit dem Berg als „plötzlicher und ungeheurer Rausch“, erleben auch Kleinschmidt und Loose unter ihrem russischen Vorgesetzten Polotnikow. Die von Friedrich Engels propagierte „eigene Vergesellschaftung“ des Einzelnen als Voraussetzung für den „Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“, hier scheint sie mühelos Wirklichkeit zu werden.

Doch der hochgebildete Erzähler Werner Bräunig, der so herrlich anschaulich schreiben und die Zügel schießen lassen kann, will sich nicht auf den kleinen östlichen Teil Deutschlands beschränken. Sei es ein Abstecher nach Wales, der Messetrubel in Leipzig voller Reklametafeln, Fahnen und Leuchtschriften oder das kriegsversehrte Minsk: Dieser klassische Epiker sieht und weiß alles. Bräunigs Gesellschaftspanorama lässt sich in seiner Totalität am ehesten mit Erik Regers (allerdings gefühlskaltem) Wirtschaftsroman „Union der festen Hand“ von 1931 vergleichen.

Ein Handlungsstrang führt ins rheinische Zentrum des Klassenfeinds. Irene, eine Cousine Kleinschmidts, lebt dort und wird in die von Ex-Nazis unterwanderten Regierungskreise eingeführt. Bratfisch, Prunz oder Lücke heißen die Honoratioren im Städtchen Bonn, dessen „abenteuerliche Mopsigkeit“ Bräunig genussvoll betont.

„Rummelplatz“ ist ein gesamtdeutscher Roman voller fatalistischer Verlorenheit, was sicherlich ein weiteres Politikum darstellte: „Da saßen sie nun, die Spätgeborenen des großdeutschen Schlussverkaufs, da saßen sie und suchten den entgötterten Himmel ab und den gestohlenen Horizont, suchten die Abenteuer und den enormen Wind, und suchten in Wahrheit ein Vaterland.“

Die West-Kapitel des dreiteiligen Buches sind die klischeehaftesten, ebenso die längeren Exkurse über das Wesen Deutschlands, die der Autor wohl glaubte einfügen zu müssen. Hinzu kommen mancherlei dramaturgische Brüche sowie der regierungskonforme Schluss „Nänie auf den Tod eines Arbeiters“: Gestützt auf Brecht-, Majakowski- und Horst-Wessel-Zitate wird der Tod des Helden Hermann Fischer den angeblich vom Westen gesteuerten „faschistischen Putschisten“ zur Last gelegt. Aber diese Interpretation rettete Werner Bräunigs Lebenswerk, das ursprünglich in einem zweiten Band bis ins Jahr 1960 führen sollte, auch nicht mehr. Der große Arbeiterroman der Deutschen Demokratischen Republik blieb ungedruckt. In seiner unkonventionellen Wahrhaftigkeit hätte er ihr zur Ehre gereicht.

Werner Bräunig: Rummelplatz. Roman. Aus dem Nachlass herausgegeben von Angela Drescher. Aufbau-Verlag, Berlin 2007. 750 Seiten, 24,90 €.

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