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Bücherburg. Auf der Fortaleza de San Carlos de la Cabana in Havanna findet einmal im Jahr eine der wohl stimmungsvollsten Buchmessen Lateinamerikas statt.

© Holger Heimann

Buchmesse in Kuba: Warten auf den Wenderoman

Kritik erwünscht, aber nicht am Kommunismus: Eindrücke von der Buchmesse in Havanna.

Die Einfahrt zum alten Hafen von Havanna wird von zwei Festungen gesäumt. Sie sollten die Stadt dereinst sicherer machen. Die Mühe war umsonst. Die Befestigungsanlagen wurden überrannt. Ein dritter Schutzwall musste her: Die Fortaleza de San Carlos de la Cabana ist eine gigantische Festung mit wuchtigen Mauern und massiven Kanonen. Noch heute wird jeden Morgen aus einer von ihnen geschossen. Ansonsten erinnert nichts an alte Zeiten. Die Burg wurde umgewidmet und beherbergt einmal im Jahr eine der wohl stimmungsvollsten Buchmessen Lateinamerikas. Im Abstand von einigen Metern geben breite Öffnungen in den Mauern den Weg frei zu Bücherständen in weiß gestrichenen Gewölben.

Alljährlich im Frühjahr machen sich hunderttausende Kubaner auf den Weg zur Festung. „Leer es crecer“, „Lesen heißt wachsen“, heißt das Messe-Motto, es prangt überall an Infoständen auf dem Gelände der Burg. Kubas Wirtschaft liegt zwar darnieder, aber auf ihr Bildungssystem sind die Kubaner stolz – zu Recht. Nirgendwo sonst in Lateinamerika und der Karibik ist die Lust auf Bücher so groß. Es gehört zu den bleibenden Errungenschaften der Revolution, dass die Menschen lesen und schreiben können, die Alphabetisierungsrate Kubas liegt bei 99,8 Prozent.

Wieder einmal gibt es kein Papier

Von der intellektuellen Neugier der Kubaner fühlt sich Michi Strausfeld schon lange angezogen. Seit 40 Jahren bringt die Berliner Agentin lateinamerikanische Literatur nach Deutschland. Jetzt sucht sie nach dem Roman, der von der Wendezeit in Kuba erzählt. „Das Wenige, was erscheint, erscheint zur Buchmesse. Und deshalb stürzen alle Kubaner zur Messe und versuchen, dort ihre Bücher zu kaufen“, sagt sie. Danach werde es schwieriger, an Bücher zu kommen. Für Strausfeld wird es eine mühsame Suche. Viele kubanische Autoren schreiben lieber Erzählungen und Gedichte als Romane. Hinzu kommt, dass die Verlage unter eklatanten Engpässen leiden. Häufig fehlt es am Elementarsten. Überall an den Ständen ist zu hören, dass es wieder einmal kein Papier gibt. Der Lyriker David Curbelo, zuständig fürs Rahmenprogramm, erklärt das mit der Abhängigkeit von Importen: „Vor zwei Jahren haben wir versucht, es in Zusammenarbeit mit Frankreich selbst herzustellen. Aber das hat nicht funktioniert, die Qualität war unzureichend. Alle Materialien, die für die Buchproduktion notwendig sind,müssen wir einführen: Tinte, Papier, sogar Computer.“

Immer wieder fehlt es am Geld für die Importe. Die Auswirkungen des Mangels lassen sich auf der Messe, die von Havanna aus über Monate durchs ganze Land zieht, und mehr noch in den Buchläden besichtigen. Viele Regale in den Geschäften Havannas sind nur spärlich bestückt. Vorrätig sind lediglich Bücher, in denen Helden der Revolution, vorneweg Che Guevara und Fidel Castro, gefeiert werden. Es sind die Titel, die in den Regalen verstauben, weil sie niemand kauft.

Ein ausländisches Buch kostet ein Monatsgehalt

„Wir befinden uns in einer Entwicklungskrise und müssen neue Wege einschlagen“, sagt Zuleica Romay, die Direktorin der Buchmesse. Die Verlage müssten lernen, eigenverantwortlich zu wirtschaften. Es ist ein Lernprozess unter schwierigen Umständen. „Die 15 Pesos, die der Leser zahlt, reichen nicht aus, um das nächste Buch zu veröffentlichen“, rechnet der Schriftsteller Arturo Arango vor. Die Buchpreise ermöglichen keinen auch nur halbwegs auskömmlichen Verdienst für Autoren. Arango schreibt deshalb Drehbücher und Theaterstücke.

Doch würden die Preise für Bücher nicht durch den Staat vorgegeben und der Konsum so subventioniert, könnte sich ein Großteil der Kubaner den Kauf gar nicht leisten. 500 Pesos beträgt ein durchschnittliches Monatsgehalt. Umgerechnet in die vor 20 Jahren eingeführte zweite Währung, die gegen Euro oder Dollar getauscht werden kann, sind das 20 Pesos Convertibles, kurz CUC, die wiederum 20 Euro entsprechen. Ein Buch aus ausländischer Produktion – in Kuba ohnehin kaum verfügbar – würde ein Monatsgehalt kosten und ist damit für die meisten unerschwinglich. Auch deshalb lässt die Frankfurter Buchmesse, die – unterstützt vom Goethe-Institut – seit Jahren auf der Messe in Havanna eine Kollektion deutscher Bücher zeigt, die Titel nach dem Abbau der Regale als Geschenk an die kubanischen Leser im Land.

"Unsere Hauptbeschäftigung besteht darin, Zeit zu verlieren"

Die Karibikinsel hat zwar die schlimmsten Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks überstanden. Aber die Menschen warten weiter auf den immer wieder versprochenen Aufschwung. So lange er ausbleibt, verlassen die einen das Land, andere versuchen sich irgendwie über Wasser zu halten. Viele haben mehrere Jobs, fast alle Energien sind darauf konzentriert, das Überleben zu organisieren.

Der Übersetzer Orestes Sandoval bildet keine Ausnahme. Der nachdenkliche Mann hat über Heiner Müller promoviert und ihn ins Spanische gebracht, die Stelle an der Universität aber aus Geldgründen aufgegeben. Heute verdient er sein Geld mit Übersetzungsarbeiten für die deutsche Botschaft. Wehmütig blickt er von der Festung hinunter auf seine Stadt: „Unsere Hauptbeschäftigung als Kubaner besteht darin, Zeit zu verlieren. Wir betreiben einen riesigen Aufwand für Kleinigkeiten“, sagt er. „Das ist unglaublich anstrengend. Vielleicht hauen deshalb so viele Leute ab, sie haben es einfach satt.“

Der 53-Jährige musste nicht flüchten, als die Grenzen noch geschlossen waren. Er konnte offiziell ausreisen und lebte mehrere Jahre in der DDR. Schließlich entschied er sich für die Rückkehr: „Ich habe gemerkt, dass ich ein schlechter Emigrant bin. Ich habe in Deutschland an Dinge gedacht, von denen ich glaubte, dass sie mir gleichgültig sind. Nah bei meinem Haus im Park gibt es acht Palmen. Ich wusste nicht, dass es acht Palmen sind, ich wusste nur, es gibt Palmen. Danach habe ich sie gezählt. Ich habe diese Palmen vermisst.“

Aufregend: Gerade ist Orwells "1984" erschienen

Vielleicht ist es bei anderen diese Vorahnung einer Sehnsucht, die enge Verbundenheit mit der Heimat, die sie davon abhält, ihr Land zu verlassen. Arturo Arango nennt noch einen anderen Grund: „Wenn ich Kuba verlassen würde, wäre das so, als würde ich während eines Films aus dem Kino gehen. Ich will wissen, was weiter passiert.“ Arango ist zwar nicht nur Zuschauer, aber davon einmal abgesehen, erscheint seine Neugier verständlich. Denn Kuba verändert sich rasant. Eine aufregende Neuigkeit macht während der Messe die Runde: Beim wichtigsten Verlag für fremdsprachige Literatur Arte y Literatura ist George Orwells „1984“ erschienen. Zu Beginn der sechziger Jahre gab es schon einmal eine kubanische Ausgabe des Klassikers. Es waren die freien Jahre kurz nach der Revolution. Danach aber verschwand das Buch, das von der Zerstörung des Menschen durch eine totalitäre Staatsmaschinerie erzählt, aus der kubanischen Öffentlichkeit. Dass es jetzt wieder verkauft wird, steht durchaus beispielhaft für eine zunehmende Offenheit.

Davon profitieren nicht zuletzt die kubanischen Schriftsteller. Der bekannteste und international erfolgreichste unter ihnen, Leonardo Padura, lebt am Rand der Hauptstadt, in Mantilla, im Haus seiner Mutter. Im Arbeitszimmer des Schriftstellers wird gerade ein neues Bücherregal aufgestellt, von draußen dringt der Verkehrslärm herein. „Ich mag die Geräusche von der Straße, arbeite immer bei offenem Fenster“, sagt der 60-Jährige unbeeindruckt. Er hat mit seinen Büchern eine Art Chronik des kubanischen Lebens seit der Revolution verfasst – ohne die Schattenseiten auszusparen, und er kennt die Bedingungen einer Autorenexistenz auf der Karibikinsel. „Der kubanische Schriftsteller bewegt sich in einem Spiel zwischen dem, was er sagen und was er nicht sagen darf“, erklärt er. „Aber der Bereich dessen, was eigentlich nicht ausgesprochen werden soll, wird immer mehr von den Schriftstellern erschlossen. Ich selbst glaube, dass ich es mittlerweile geschafft habe, alles zu sagen, was ich sagen will, allerdings in einer künstlerischen Form.“

Die Spielräume sind größer geworden. Aber die Kubaner wissen nach wie vor, wo die Grenzen sind: Sie dürfen die Missstände im Land kritisieren, nicht jedoch die Ablösung der Regierung verlangen. Die kommunistische Partei bleibt vorerst unantastbar.

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