zum Hauptinhalt
Schreibt an einem neuen Buch über die Krim. Landolf Scherzer in seinem Haus im thüringischen Suhl.

© dpa/Michael Reichel

Landolf Scherzer wird 80: Wer nur beobachtet, der sieht nichts

Bilanz einer ostdeutschen Reporterlegende: Hans-Dieter Schütt führt ein Gespräch mit Landolf Scherzer.

Was macht einen guten Reporter aus? Er sieht mehr als andere, er hört mehr als andere, ließe sich vermuten. Und kann das alles auch noch ausdrücken. Mag sein. Aber vielleicht ist es doch etwas anderes: Der Reporter setzt sich aus. Er behält keine Reserve zurück. So betrachtet ist Landolf Scherzer die Inkarnation des Reporters, ein Extremist, einer vom Schlage Günter Wallraffs, mit dem er befreundet ist. „Der Beobachter sieht nichts“, sagt er.

Landolf Scherzer zählt zur aussterbenden Gattung der Reporterlegenden. Und für einen Abgesandten des Reichs der Worte durchaus auffällig: Eigentlich verabscheut er es, Worte zu machen. Große schon gar nicht, aber auch keine mit Aura, keine schönen, und überhaupt: je weniger, desto besser. Dass ihn auch Leute kennen, die seine Bücher nie gelesen haben, liegt vielleicht an seinem hochauflösenden Porträt eines Thüringer Epochenwechsels in vier Teilen: „Der Erste“ hieß der erste, der „Zweite“ hieß der zweite, dann kamen „Der Letzte“ und „Der Rote“. „Der Rote“ war Bodo Ramelow. Eine Thüringen-Tetralogie!, sagt Hans-Dieter Schütt.

„Der Erste“ sollte keineswegs eine Reihe eröffnen, der Titel war bloß die Kurzform von „1. Sekretär der Kreisleitung der SED Bad Salzungen“, erschienen im Vorwende-Jahr 1988. Und jetzt schaut Landolf Scherzer in „Weltraum der Provinzen“ auf dieses Buch und alle anderen zurück, im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt, einem der wortmächtigsten Journalisten und Autoren dieses Landes – und zuvor der DDR. Was er dort war? „Windmacher fürs Fahnenflattern“, sagte er einmal, der seine Republikflucht, Handke lesend, erst nach dem Ende der DDR antrat. Schütt war Chefredakteur der FDJ-Zeitung „Junge Welt“, Auflage: 1,5 Millionen.

[Landolf Scherzer: Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben. Im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 281 Seiten, 22 €.]

Die beiden kennen sich lange. 1988 saß Scherzer bei Schütt in der Chefredaktion, um einen Vorabdruck des „Ersten“ zu verabreden. Hans-Dieter Schütt, damals beredtes Mundstück des SED-Staates, mochte den Text, sehr sogar. Und den Autor mochte er auch. Scherzer ging es um eine Nahaufnahme der Arbeiter- und Bauernmacht, er hatte den früheren Holzfäller Hans-Dieter Fritschler vier Wochen lang begleitet, von morgens bis abends. Vom Holzfäller zum Parteisoldaten? Nein, kein Parteisoldat, eher ein Parteibaum: schwer zu verbiegen, knorrig, für sich stehend. Schütt nahm bedingungslos an, doch dann kam Post vom FDJ-Zentralrat: „Das gehört nicht in die Junge Welt!“

Zwei Kinder der DDR

Scherzer und Schütt, Jahrgang 1941 und 1948, zwei Kinder der DDR, die es sehr ernst meinten mit ihr. Scherzer immer aus der Distanz des Reporters, Schütt aus größtmöglicher Nähe. Scherzer kommentierte – Reporterehre! – schon damals möglichst nichts, Schütt am liebsten alles. Fast geizend mit Worten der eine, der andere sie mit wunderbarer Beredsamkeit zu immer neuen Welteröffnungen fügend. Es ist ein faszinierendes, erfahrungstiefes 280-Seiten-Gespräch geworden, denn da reden zwei, die tiefe Brüche, Abbrüche, erlebten und sich doch außerstande sahen, nach 1990 wie viele einen Teil ihres Selbst zurückzulassen. Beiden kehrt – Orte, Personen, Situationen betrachtend – die alte Einsicht wieder: Ein Weltenwechsel verändert Charaktere nicht, er zeigt sie. Die eigenen eingeschlossen.

Schütt zitiert gern die Einsicht des österreichischen Essayisten Franz Schuh, manche Menschen würden wie Pflanzen (nicht Bäume!) ins Leben wachsen, an den Umständen emporrankend, ohne je einen wirklichen Ich-Kern auszubilden. Hier sprechen zwei Kerninhaber mit Schalen verschiedener Rauhigkeitsgrade, der eine mehr fragend, der andere mehr antwortend. „Wer nichts von Irrwegen weiß, weiß auch nichts von Wegen“, sagt Scherzer. Irrwege?

Auf den Spuren des wahren Sozialismus

Im Herbst ’89 war Scherzer gerade in der Sowjetunion, auf den Spuren des wahren Sozialismus von Glasnost und Perestrojka, als er im Fernsehen die Leute auf der Berliner Mauer tanzen sah. Da „hab ich die letzte Flasche Wodka meines Vorrats ausgetrunken“, sagt der Reporter. Vor Ent-Täuschung. Als er zurückkam, ging er acht Tage lang nicht aus dem Haus. Und irgendwann war da die Idee, er könne sich einmal den Nachfolger des Holzfällers in Bad Salzungen anschauen. Das war der Landrat und Antikommunist Stefan Baldus, CDU, früherer Offizier der Bundeswehr, „Der Zweite“ also.

[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Was will ein Reporter? Aufdecken, entlarven? Das habe ihm ferngelegen, sagt Scherzer, er wollte vielmehr seine Toleranz an dieser fremden Seins- und Denkform erproben. Das wollten sie dann beide. Dieser Autor hatte nie Talent zum vorgefassten Urteil, nicht einmal von sich selbst ließ er sich in seine Texte hineinreden. Das ist es, was seine Großreportagen noch immer zu einzigartigen Zeitdokumenten macht, auch die des Weltreisenden Landolf Scherzer zwischen Kuba und China, zwischen Mosambik und Tschernobyl. Und immer lebte er mit den Menschen, statt bloßer Beobachter und distanziert Fragender zu sein.

1983 erschien im Rudolstädter Greifenverlag ein Buch, das Schütt noch immer für sein bestes und rauestes hält: „Fänger & Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo“. Der Reporter als Arbeiter auf einer schwimmenden DDR-Fischfabrik. Schütt: „Konserviert werden nicht bloß Fische, sondern auch eine Struktur: in der Nussschale die zerbeulte sozialistische Welt.“ Am heutigen Mittwoch wird der Reporter Landolf Scherzer 80 Jahre alt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false