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Aufnahmen aus dem Kolonialkrieg gegen Äthiopien (1935-41). Die vom Großonkel heimgebrachten Fotografien werden von der Familie in Südtirol aufbewahrt.

© Markus Wurzer

Wie an den Kolonialismus erinnern?: Schattenseiten der Familiengeschichte

Fotoalben, Gemälde, Souvenirs: Ein Workshop des Max Planck Institut in Halle über Formen der Erinnerung und was sich dahinter verbirgt.

Die Benin-Ausstellung im gerade eröffneten zweiten Teil des Humboldt Forums macht es sichtbar: In den Museen tut sich was in Sachen Dekolonisierung. Nach jahrelanger Vorbereitung, wie die berühmten Benin-Bronzen aus dem Bestand des Ethnologischen Museums am besten zu präsentieren seien, ist letztlich doch nur ein Bruchteil zu sehen – als Leihgaben. Kurz vor Eröffnung des Ostflügels vom Humboldt Forum wurden Berlins Benin-Bestände an Nigeria restituiert. Die aktuelle Ausstellung kam kurzfristig in Kooperation mit Kuratoren des afrikanischen Landes zustande.

Das klingt nach einer vorläufig glücklicher Lösung nach so vielen Jahren des Verhandelns und zunächst Negierens – trotzdem fehlt noch immer ein wichtiger Faktor dabei. Beim Workshop „Colonialism and Transgenerational Memory in Europe“ des Max Planck-Instituts für soziale Anthropologie in Halle ließ sich eine Ahnung gewinnen, wo es bei den Erfolgsstorys gelungener Rückübertragungen geraubter Kunst aus kolonialem Kontext noch Leerstellen gibt: bei den persönlichen Geschichten.

Das machte Gracia Lwanzo Kasongo von der Université Catholique de Louvain für Belgien deutlich. Dort wurden ähnlich wie in der Bundesrepublik Verhandlungen von Staat zu Staat geführt. Dass eine Kraftfigur, die Chief Ne-kuko als ein Symbol des kongolesischen Widerstands zurückzubekommen suchte, aus einem familiären Besitz stammt, sei zu kurz gekommen. Die private Geschichte hinter solch repräsentativen Objekten und die damit verbundenen Gefühlen müssten unbedingt thematisiert werden. Kasongo schlägt vor, Familienarchive zu öffnen und „gemeinsam zu erzählen“.

Aus der Benin-Ausstellung im Humboldt Forum: Altargruppe mit Königinmutter.
Aus der Benin-Ausstellung im Humboldt Forum: Altargruppe mit Königinmutter.

© © Staatliche Museen zu Berlin / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss / Alexander Schippel

Genau dazu hatte der österreichische Historiker Markus Wurzer vom Hallenser Institut mit seinem Workshop eingeladen, der auf immense Resonanz stieß. Die transgenerationale Erinnerung europäischer Familien an die koloniale Vergangenheit beginnt ein großes Forschungsthema zu werden.

Forschende entdecken das kollektive Gedächtnis

Nachdem sich die Museen häufig genug erzwungenermaßen durch Provenienzforschung den Relikten dieser Vergangenheit widmen und auch die Kommunen nachziehen, indem sie koloniale Spuren im öffentlichen Raum kenntlich machen, ist die Wissenschaft hier auf eine lange brachliegende Quelle gestoßen, die nun zu sprudeln beginnt.

Ariane Karbe vom Privatmuseum Villa Freischütz im italienischen Meran und der Historiker Hannes Obermair von der European Academy in Bozen demonstrierten am Beispiel eines äthiopischen Kriegermantels, wie es im halböffentlichen Raum funktionieren kann. Der prachtvolle Umhang befindet sich heute in dem Enea Navarini gewidmeten Privatmuseum.

Die Enkelin hätte ihren Großvater kaum für einen Täter gehalten

Enkelin Rosamaria, die es in der Villa Freischütz gründete, hätte wohl nie gedacht, dass ihr Großvater als General der italienischen Armee zu den Haupttätern des kolonialen Vernichtungsfeldzugs in Äthiopien gehörte. Noch heute erinnert man sich in Meran an ihn vor allem als freundlichen älteren Herrn.

Blut klebt also an dem von Navarini mitgebrachten Kriegermantel. Und doch befindet er sich weiterhin in der Sammlung. Ihn ergänzt jedoch neben einer Darstellung, was damals in Äthiopien geschah und welche Rolle der nette Veteran von nebenan spielte, ein Giftgas-Handbuch und entlarvende Fotos, die sich ebenfalls im Nachlass befanden. Die Familiengeschichte gewinnt an Tiefe, wenn auch durch eine Schattenseite. Ariane Karbe verwies deshalb auf einen Zwiespalt bei der Präsentation: einerseits das Bedürfnis, die Privatsphäre einer Person zu schützen, andererseits die Notwendigkeit, die ganze Geschichte erzählen zu müssen.

Diesen Konflikt erfährt der Schweizer Historiker Dag Henrichsen vom Institut Basler Afrika Biographien am eigenen Leib. In Namibia als Nachfahr einer Siedlerfamilie geboren, versucht er eine eigene Haltung zum Erbe zu gewinnen. Was tun mit Erbstücken, etwa den bei Siedlern um die Jahrhundertwende so populären Gemälden von Axel Eriksson, der die nach dem Genozid entleerten Landschaften Namibias malte? Behalten, verkaufen, verbrennen? Henrichsen betonte mit seinem Vortrag zugleich, wie wichtig es sei, sich vorher darüber klar zu werden, welchem Publikum man seine Geschichte erzähle und warum.

Eine andere Form der Verarbeitung beschrieb die Künstlerin und Lehrbeauftragte Katy Beinart von der University of Brighton. Sie hatte die Spur ihrer jüdischen Vorfahren von Litauen nach Südafrika aufgenommen, wo die Familie in der Salzgewinnung und als Schneider Fuß fasste und sich eine neue Identität zulegen konnte.

Welche Geschichten werden erzählt? Und warum?

„Don’t look back“ nannte Beinart ihre anschließend entstandene Installation. In ihrem Vortrag berichtete sie vom Konflikt ihrer Vorfahren, als Teil des kolonialen Systems privilegiert zu sein und gleichzeitig um die Ungerechtigkeit der Apartheidspolitik zu wissen.

Welche Geschichte erzählt werden und warum, analysierten Louise Ballière und Wouter Reggers von der Université Catholique in Louvain anhand der Erinnerungen belgischer Familien an den Kolonialismus. Eine große Rolle spielte er nie im öffentlichen Bewusstsein. Die Flamen schoben die Verantwortung der Monarchie und frankophonen Elite zu, die wiederum spielte ihre Bedeutung als kleinen Fisch, „petit Belge“, herunter.

Das Phänomen der Externalisierung dürfte künftig zu den interessantesten Forschungsthemen gehören – womöglich als Fortsetzung der Studie „Opa war kein Nazi“.

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