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Zeit ist Freiheit: Eva von Redeckers philosophischer Essay
Eine Freude: Mit „Bleibefreiheit“ hat die Philosophin der Pandemie etwas ungewöhnlich Leichtfüßiges abgerungen
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Manchmal lasse sie sich von Mücken stechen, erzählt Eva von Redecker in ihrem Essay. Schließlich müssten auch lästige Insekten von etwas leben. Die jährliche Wiederkehr der Schwalben ist das zentrale Bild dessen, was sie mit einer philosophischen Neuschöpfung „Bleibefreiheit“ nennt. Ohne Insekten keine Schwalben. Fünfhundert Insekten pro Stunde brauche ein Schwalbenjunges, um zu wachsen.
Wahrscheinlich würde es dieses bei allem Gedankenreichtum wundersam luftige Buch ohne die Pandemie gar nicht geben. Die Stornierung einer Vortragsreise in die USA brachte Eva von Redecker, eine der wichtigsten und einfallsreichsten Philosophinnen der Gegenwart, auf die Idee, jenes Gefühl der Freiheit, das sie plötzlich überkam, genauer zu untersuchen.
„Es war einfach ein verblüffender Genuss von Offenheit – keine Termine, keine Fristen heute – und dazu das Geschenk einer ganz besonderen Gunst. An genau dem Tag kamen die Schwalben wieder. Und ich war da.“ Müsste man Freiheit, anders als wir es gewohnt sind, nicht einmal als zeitlichen Begriff untersuchen? Und nicht als einen vorrangig räumlichen, den wir mit Bewegungsfreiheit assoziieren, etwa in den gegenwärtigen Mobilitätsdiskursen oder in Hinsicht auf die Einschränkungen während der Covid-19-Pandemie?
Der Bundesgerichtshof hat mit seinem bahnbrechenden Urteil vom 24. März 2021 eine wertvolle Spur gelegt, als er in Hinsicht auf das Klimaschutzgesetz von „intertemporaler Freiheitssicherung“ durch die Grundrechte sprach. Sie mache es unrechtmäßig, die „Treibhausgasminderungslast“ einseitig in die Zukunft zu verlagern und damit die grundrechtlich geschützte Freiheit der Jüngeren zu gefährden.
In einer leichthändigen Mischung aus persönlicher Erzählung und Begriffsarbeit erkundet Eva von Redecker das Themenfeld. Hat sie in „Revolution für das Leben“ eine stringente politische Theorie entworfen, so bewegt sie sich nun eher tastend voran. So entsteht eine kontemplative Atmosphäre, die zum Nachdenken einlädt und dem Gegenstand auf besondere Weise angemessen ist.
Denn im Kern geht es darum, sich „Freiheit selbst als Zeit vorzustellen“. Und dabei kommt auch die eigene Endlichkeit in den Blick. Wieviel Zeit mag einem gewährt sein? Das ist eine der zentralen Fragen. In Abgrenzung zum „Besitzindividuum“, das auf seinen Eigentumsrechten beharrt und auch sich selbst – eine der Grundwahrheiten der Kritischen Theorie - wie eine Sache behandelt, die man formen und im Griff haben kann, setzt Eva von Redecker alles daran, den Menschen als ein Beziehungswesen zu charakterisieren.
Das „Souveränitätsphantasma“ ist ein männliches Projekt, auch wenn man es Frauen seit Jahrzehnten wie eine Karotte vor die Nase hält. Es gipfelt in den technoiden Schöpfungsphantasien des Transhumanismus und Longtermism, wie sie etwa Elon Musk oder Nick Bostrom vertreten, im festen Glauben an das ewige Leben als KI-generierte Gehirn-Simulation.
So manches, was Redecker über Zeit und Zeitlichkeit sagt, kommt den Überlegungen des Soziologen Hartmut Rosa und seinem „Resonanz“-Modell nahe. Doch die Philosophin setzt andere Akzente. In manchen Schleifen ihres Essays erzählt sie von der Leukämie-Erkrankung und dem langen Sterben ihres Vaters sowie vom anderen Umgang mit dem Tod einer älteren, an Multipler Sklerose erkrankten Freundin.
Im Verlauf des Textes verschiebt sich der Fokus von der Sterblichkeit auf die „Gebürtlichkeit“ oder „Natalität“, einen Begriff, den sie von Hannah Arendt übernimmt. Ab diesem Moment wird der Essay zu einem beschwingenden Konzept. Denn Natalität und die damit verbundene Freiheit bedeutet bei Hannah Arendt die Fähigkeit, jederzeit „Neues in Bewegung“ setzen zu können
Die „neoliberale Proto-Apokalypse“, in der Freiheit längst zur „Gallionsfigur der Verwüstung“ geworden ist, die auch der letzte Wutbürger noch fahnenschwenkend vor sich herträgt, fußt auf dem Eigentum als zentraler Rechtsposition. Das hat auch mentale Konsequenzen. Nicht umsonst kann man auf Thüringer CDU-Plakaten lesen: „Ich entscheide, wie ich heize!“ Dass saubere Luft, Trinkwasser und genügend Nahrung für alle im fortgeschrittenen Stadium der Menschheitsgeschichte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müssten, ist offenbar keine.
Stärker als den Begriff der Reproduktion akzentuiert Eva von Redecker den Begriff der Regeneration, als „die Zeit, in der etwas Lebendiges sich anstrengungslos wiederherstellt.“ Mit Recht verweist sie auf die Äußerung der US-amerikanischen Geologin Marcia Bjornerud, wir seien „Chronophobiker“ und „blind für zeitliche Proportionen“. Dabei geht es auch um eine „Theorie des Bodens“, der mit seinen unzählbaren, aufeinander eingespielten Lebewesen eine „nicht erneuerbare Ressource“ darstellt. Die Zeit, in der wir vor Urzeiten entstandene Energiequellen verbrauchen, ist wirklich verloren.
„Erfüllte Zeit“ ist Zeit, die man ohne Druck und Zwang mit anderen verbringt, oft ist sie von Rhythmen und Wiederholungen geprägt. Sie bedeutet, „vollauf mit dem beschäftigt sein, was sich bietet“. „Bleibefreiheit“ ist ein beflügelnder Essay von großer innerer Freiheit, die sich nicht als Souveränität gebärdet, sondern freizügig Gesten der Anerkennung und Verbundenheit verteilt. Ein nachhaltiges Sommerbuch - für Reisende und Bleibende.
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