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Flamme im Schatten. Gabriele Heidecker vor einem ihrer Herzenswerke in der Kunstkaserne.

© PR/M.M. Schröder 

Kunst aus der Kaserne: Berg und Tal erleben in einem Augenblick

Gabriele Heidecker hat ein Werk geschaffen, das zum Wesen der internationalen Kunstmessen vordringt und individuell erlebt werden kann.

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Verwunschene Kunstorte kann man in Berlin auch außerhalb der üblichen Festivals besuchen. Gabriele Heidecker bespielt seit Mitte der 80er Jahre die Kunstkaserne am Südkreuz. Einst haben da Soldaten gelebt, um die 80 Menschen pro Kasernengang in einer Etage. Nun kann man dort Kunst erleben in einem typischen Berliner Ambiente aus Ruinencharme und der daraus erwachsenden Kreativität.

Ein Riss ging durch das alte Gemäuer, nachdem es im Zweiten Weltkrieg von einer Bombe getroffen wurde. Nach dem Krieg wurde der Riss geklebt mit Beton. Das Technische Hilfswerk zog ein und ersetzte die zerborstenen Fenster.

Die mystische Energie des Gebäudes war spürbar, als die Künstlerin und Fotografin Gabriele Heidecker und ihr Mann Marosch M. Schröder den Ort als Atelier und Ausstellungsraum für ihre Arbeit entdeckten. Das war 1986. Gerade bereitet Heidecker eine Schrift vor, in der sie die hier entstandenen Werke aus den vergangenen vier Jahrzehnten dokumentieren will.

Zickzackwege in Spiegeln

Oben im Gang stehen „Rote und Schwarze Craquelés“, die zwischen 1995 und 2005 entstanden sind, hohe Skulpturen, Teer auf Holz und kreisförmige Abdrücke von Rohren, sichtbar gemacht durch getrocknete rote Acrylflüssigkeit. Blutrot ist für die Künstlerin eine weibliche Farbe, die Lebensenergie symbolisiert. Die Häutungen der Skulptur, unterschiedlich geformte Farbschichten, hat Heidecker zwischen Glasscheiben gepresst.

In einem Raum stehen auf rohem Boden vier Spiegel, jeweils mit Neonröhren zu beiden Seiten. Umgeben sind sie von halbverputzten Backsteinwänden, die der Szenerie ein märchenhaftes Umfeld geben. Stellt man sich in die Mitte, sieht man Treppen-Illusionen. Bergauf geht es vor- und rückwärts.  

Zwischen Hongkong und Johannesburg

Seitwärts stellt sich die Illusion ein, es ginge bergab. Berg und Tal erleben im selben Augenblick, das ist der Impuls dieses Kunstwerks. Stellt man sich an die Kanten, sieht man Zickzackwege vor sich. „Virtueller Platz“ heißt die Installation, die auch verkäuflich ist.

Verwandt damit ist die Fotoserie auf dem 50 Meter langen Gang „Virtueller Weg“, die aus der Vorgänger-Installation gleichen Namens entstanden ist. In einem anderen, ebenfalls von Rissen gezeichneten Raum, hängen Heideckers Bilder von Kunstmessen von Basel über Mexico City und Hongkong bis Dubai und Johannesburg.

Auf dem Dorfplatz der internationalen Kunstwelt

Die Serie „Art Affairs“ zeigen etwa ein Bein mit Netzstrumpf, ein Mädchen im Regen oder auch den Inhalt einer Handtasche, der sich auf dem Boden ergossen hat. Die Bilder, zu denen renommierte Autoren wie Marc Spiegler Texte verfasst haben, handeln von der Agora der Kunstwelt, vom Krieg zwischen Kunst und Kommerz, von der Leidenschaft des Habens und Wollens, von Ehrgeiz und Champagner.

Ihr Vermögen, Momente einzufangen, die die beteiligten Menschen und die Werke genau charakterisieren, kennzeichnen das Langzeitprojekt, das eine Szene abbildet, die auch im Berliner Kulturleben durch zahlreiche Events immer sichtbarer geworden ist in den vergangenen Jahren. Hier kann man in die Entwicklung einer Welt eintauchen, die für Außenstehende manche Rätsel birgt. Mit „Global Art Affairs“ setzt sie dieses Kunstprojekt aktuell fort.

Zwischen Burka und Sonnenbrille

Ein schwarz-weißer Foto-Komplex zwischen Burka und Sonnenbrille unter dem Titel „Attraction - Temptation“ gehört in eine Serie von Fotoarbeiten, die bereits 1996 konzipiert wurden. Erst im letzten Jahr ist in Mailand ihr Foto-Portrait über das Haus des Malers Giovanni Segantini erschienen, „Casa Segantini in Maloja“.

Angefangen hat Heidecker, gebürtig in Konstanz, mal als Studienrätin. Das Angebot, in die Lehrerfortbildung einzusteigen, schlug sie energisch aus. Die Berufung als Malerin und Fotografin war zu früh schon übermächtig. Künstlerische Qualitäten verlangte auch eine ganz andere Tätigkeit, die sie jeweils drei Monate im Jahr ausübte, von Dezember bis Februar.

Leiterin der Berlinale-Gästebetreuung

Von 1981 baute sie für die Berlinale die professionelle Gästebetreuung auf, war deren Chefin bis 2021. Mit drei Mitarbeitern fing sie an. Als sie ging, waren es schon 50. Ihr oblag es, immer genau die richtigen Persönlichkeiten zu finden, gleichzeitig empathisch und kooperativ, die in der Lage waren, anwesende Stars sicher und souverän durch das Festival und die Stadt zu begleiten.

Aus ihrem Stolz, dass manche von denen große Karrieren gemacht haben, eine ihrer letzten Entdeckungen vom Goethe-Institut zum Auswärtigen Amt gewechselt ist, macht Heidecker beim Kaffee im Salon der Kunstkaserne keinen Hehl. Gelassenheit und Geduld mögen ihr dabei geholfen haben, beide Eigenschaften strahlt sie spürbar aus. In der kleinen Vase leuchten Maiglöckchen, die Marosch M. Schröder, gerade mitgebracht hat.

Im Berliner Kulturleben hat sie über die Jahre auch andere vielfältige Spuren hinterlassen, hat mitgearbeitet an Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst in der Neuen Nationalgalerie und war als Referentin der Museumsakademie der Staatlichen Museen im Einsatz.  

In ihrem eigenen Werk spielen neben der Fotografie Installationen und Objekte die Hauptrolle. Nachdem sie an der Freien Universität unter anderem indische und ostasiatische Kunstgeschichte studiert hatte, lag es nahe, die Kunst aus der Kaserne auch in Indien zu zeigen, unter anderem in Neu-Delhi und bei der Triennale India.

Heidecker widmet sich inzwischen ganz ihrer Kunst. Die Arbeit im Atelier empfindet sie, die von der Berlinale Trubel durchaus gewöhnt ist, keineswegs als einsam. Sie sei immer wieder überrascht, welche Reichtümer sie in sich entdecke. Dazu zählt die Neugier auf andere Künstler. Aus unterschiedlichen Gründen, einer Sichtweise oder einer bestimmten Technik halber, kann man sich auch aus der Ferne anderen manchmal nah fühlen, seien es Rebecca Horn oder Steve McQueen.

Und für die sozialen Medien lässt sie sich selbst aufnehmen vor einem Bild, das ihrem Herzen besonders nahe ist: „Flame in The Shadow“. Das hat sie 2003 in der weißen Wüste Ägyptens gefertigt. „Ohne meinen Schatten hätte ich die Flamme am frühen Morgen nicht fotografieren können“, sagt sie. „Sie wäre schlicht nicht sichtbar gewesen.“ Insofern erzählt gerade dieses Bild viel von ihrem Kunstverständnis.

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