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Spandau im Maßstab 1:650.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Spandau: Die verhinderte Metropole

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf NR. 79: Spandau.

Fläche:

8,03 km² (Platz 45 von 96)

Einwohner: 38 381 (Platz 36 von 96)

Durchschnittsalter: 41,1 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Bela B. (Arzt), Spandau Ballet (UK-Band)

Gefühlte Mitte: Rathaus

In der Kantine des Spandauer Rathauses stand Gulasch auf der Mittagskarte. Beim Essen wanderte mein Blick über die Wände des Speiseraums und blieb an einer Serie von Gemälden hängen. Sie zeigten Altbaufassaden in Pastellfarben. „Die ausgestellten Bilder zum Thema Berlin-Mitte“, las ich auf einer Infotafel, „sind Teil einer Bewerbungsmappe für ein Kunststudium an der Universität der Künste Berlin“.

So weit, dachte ich kauend, ist es also gekommen: Die Spandauer Jugend malt hauptstädtische Bauten ab, um sich damit den Berliner Kunsthochschulen anzubiedern – und das Ergebnis müssen sich auch noch die Spandauer Rathausbesucher aufs Brot schmieren lassen. Welche Demütigung!

Dabei war doch gerade das Rathaus einst als Symbol für den unbeugsamen Lokalstolz der Spandauer erbaut worden. Sechs Millionen Mark kostete der Prunkbau, der zwischen 1910 und 1913 am rechten Havelufer errichtet wurde, die Fassade demonstrativ Richtung Nordwesten gewandt, der ungeliebten Konkurrenzstadt Berlin den Rücken kehrend. Es war ein letzter, bereits zum Scheitern verurteilter Versuch, Spandaus Eigenständigkeit zu unterstreichen. Nur wenige Jahre nach der Rathauseröffnung verleibte sich die gierig wachsende Metropole ihre nunmehr zum Bezirk degradierte Nachbarstadt ein. Seitdem sind die armen Spandauer dazu verdammt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit erwähnen zu müssen, dass ihr Wohnort laut urkundlicher Ersterwähnung (im Jahr 1232) älter als Berlin ist (1244).

Während ich durch die Altstadt mit ihren Gässchen und Kirchlein und Häuserchen lief, versuchte ich mir vorzustellen, was aus dieser Fußgängerzonenidylle hätte werden können, wenn damals alles anders gekommen wäre – wenn nicht Berlin den städtischen Wettstreit für sich entschieden hätte, sondern Spandau.

Die Rollkoffertouristen der Welt würden dann heute über das schiefe Kopfsteinpflaster des Spandauer Kolks holpern, auf der Suche nach urbanen Abenteuern, wie man sie in Europa einzig hier erleben könnte. Im Industriegebiet am Ruhlebener Altarm würden nachts die Bässe wummern, denn schon längst säßen hier keine stinkenden Klärwerke mehr (die hätten die Spandauer nach Berlin verlegt), sondern die angesagtesten Clubs der Welt.

Die Neustadt wäre kein verschlafenes Wohnviertel, sondern ein vibrierender Szenekiez, dessen Nachtleben sich um die Traditionskneipe „Imma uff“ drehen würde (zum Zeitpunkt meines Besuchs paradoxerweise geschlossen). Im Bistro „Charlotte“ träfe sich die Hauptstadt-Intelligenz, im „Salon Nickel“ ließe sie sich die Haare schneiden, in der Nikolaikirche würde der Landesbischof regieren, im Rathaus die Kanzlerin. Tegel hätten die Spandauer längst dichtgemacht, ihren Flugverkehr würden sie über die Köpfe der Berliner hinweg stadtauswärts leiten (statt umgekehrt, wie es heute ist).

Nur gelegentlich, wenn den Spandauern der Sinn nach Kleinstadtatmosphäre stünde, würden sie kurz mal rüber nach Berlin fahren, mit der U-Bahn bis zur Endhaltestelle „Rotes Rathaus“. In der dortigen Kantine würden sie die Gemälde belächeln, mit denen sich die örtliche Jugend den Spandauer Kunsthochschulen andient, und bevor sie wieder heimführen, würden sie sich zum wiederholten Male fragen, warum sich ausgerechnet nach diesem piefigen Spree-Kaff wohl die britische 80er-Jahre-Band „Berlin Ballet“ benannt hat.

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