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Meinung: Beeinflusst Arbeitslosigkeit und Stress unser Wachstum?

„Stress lässt schrumpfen“ vom 4. Januar Wenn wir nicht gerade erst Silvester gefeiert hätten, würde ich diesen Artikel glatt für einen Aprilscherz halten.

„Stress lässt schrumpfen“ vom 4. Januar

Wenn wir nicht gerade erst Silvester gefeiert hätten, würde ich diesen Artikel glatt für einen Aprilscherz halten.

Kinder erwerbsloser Eltern bleiben in ihrem Wachstum hinter Gleichaltrigen mit arbeitenden Eltern zurück? Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu wissen, dass der Körpergröße vor allem durch die genetischen Voraussetzungen Grenzen gesetzt sind. Statt zwölf Jahre lang Grundschüler zu vermessen, hätten die Tübinger Forscher besser die Ursachen der Arbeitslosigkeit der Eltern ergründen und beseitigen sollen.

Ich bin übrigens in der DDR aufgewachsen, wo bekanntlich Vollbeschäftigung herrschte. Wenn die Wissenschaftler aus Tübingen recht hätten, wären wir ein Volk von Riesen gewesen! Ich schaffte es allerdings nur auf 1,57m. Wahrscheinlich eine zu vernachlässigende Abweichung!

Susanna Low, Berlin-Zehlendorf

Sehr geehrte Frau Low,

Sie haben natürlich völlig recht, dass die individuelle Körpergröße ganz wesentlich von den Genen bestimmt wird. Dennoch hat die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt einen signifikanten Einfluss auf die Körpergröße. Wie können beide Aussagen gleichzeitig wahr sein? Die wichtigen Worte sind hier „im Durchschnitt“ (oder „im Schnitt“, wie es im Artikel hieß). Körpergröße kann nur als Indikator herangezogen werden, wenn Durchschnitte für eine große Anzahl von Individuen verglichen werden. Die geringe Körpergröße eines einzelnen Menschen sagt nichts über das Wohlergehen aus, weil es eben diese breite genetische Streuung gibt. Um Durchschnitte von vielen tausend Kindern zu berechnen, benötigt man in der Tat etwas Zeit. (Aber seien Sie beruhigt: wir haben nicht zwölf Jahre lang Kinder gemessen, sondern konnten auf die Schulmessungen zurückgreifen, die sowieso vor Ort durchgeführt wurden. Wir haben übrigens für diese Studie nicht Brandenburg ausgewählt, weil das Phänomen nur dort aufgetreten ist, sondern weil die Dokumentation der Einschulungsmessungen in diesem Bundesland vorbildlich ist.)

Wirtschaftswissenschaftler benutzen für diese Art von Studien eine spezielle Art der Analyse, die sogenannte Regressionsanalyse. Aber es wäre zu aufwendig, diese Technik hier genau zu erklären. Vielleicht nur so viel: Diese Analysetechnik erlaubt es, verschiedene Einflussfaktoren auf eine zu erklärende Variable (d.h. in unserem Fall: die Unterschiede der Körpergröße) getrennt abzuschätzen, obwohl die gleichzeitigen Einflüsse berücksichtigt werden.

Übrigens findet auch eine weitere Studie zu England, dass Kinder von arbeitslosen Eltern kleiner sind, obwohl dort auch die Körpergrößen von Eltern in den Analysen berücksichtigt wurden. Diese englische Studie wird auch in unserer Studie zitiert, die man in der Zeitschrift „German Economic Review“ nachlesen kann.

Eine andere Frage, die man an unsere Studie stellen kann, ist die berühmte Henne-Ei-Frage: Waren die Kinder kleiner, weil ihre Eltern unter den psychologischen Belastungen der Arbeitslosigkeit litten, oder hatten die Eltern von kleinen Kindern, die im Durchschnitt auch etwas kleiner sind, Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt? Nun, zum einen würde ich nicht generell erwarten, dass kleiner gewachsene Menschen Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben. Aber wir haben darüber hinaus geschaut, ob sich die Arbeitslosigkeit in einem Landkreis und einem Jahr systematisch auf die durchschnittliche Körpergröße der Kinder auswirkt. Dies hat den Vorteil, dass dann die Richtung des Einflusses klar ist: Von der Arbeitslosigkeit zur Körpergröße (denn die meist sechsjährigen Kinder nehmen ja Gott sei Dank nicht am Arbeitsmarkt teil). Auch aus vielen anderen Studien von Medizinern, Biologen, Gesundheits- und Ernährungswissenschaftlern wissen wir, dass die psychologischen Effekte der Arbeitslosigkeit sehr erheblich sind, und auch auf die Kinder wirken können. Neu war in unserer Studie aber, dass der Effekt noch in den 1990er- und 2000er-Jahren so erheblich ist.

Schließlich möchte ich kurz auf Ihren Einwand eingehen, dass ja in der DDR Vollbeschäftigung herrschte, und dass fehlende Arbeitslosigkeit hohe Körpergrößen bewirkt haben müsste. In der Tat hat Arbeitslosigkeit nur dann negative psychologische Folgen, wenn eine Gesellschaft die Teilnahme am Arbeitsprozess mit einem höheren Sozialstatus verbindet. Zu anderen Zeiten (und auch in anderen Ländern) spielen natürlich andere Faktoren eine wichtige Rolle. Auf dem Gebiet der heutigen ostdeutschen Bundesländer waren die Menschen im Durchschnitt in den 1930er Jahren gleich groß wie in Westdeutschland. In der Zeit der DDR stieg die Körpergröße zwar an, aber nicht so stark wie in Westdeutschland. Immerhin war der Sozialismus der DDR wesentlich erfolgreicher als andere Regierungsformen. Zum Beispiel wurden in Südkorea die Koreaner seit der Teilung des Landes deutlich größer als die Nordkoreaner, die zuvor etwas größer waren. Daniel Schwekendiek und Sunyoung Pak fanden heraus, dass heute die Nordkoreaner etliche Zentimeter kleiner sind als die Südkoreaner. Journalisten berichten von Plakaten in nordkoreanischen Schulen, auf denen „Werdet größer!“ steht, aber bei der mangelhaften Ernährungslage im Land dürfte dies den Schülern auch bei größter Willensanstrengung schwer fallen …

— Prof. Dr. Jörg Baten, Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Tübingen

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